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Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Titel: Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
Autoren: Dubravka Ugresic
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beseitigen.
    Meine Studenten sind offenbar zu spät dran, wie ich auch, wir sind um eine Sekunde, nur um eine Sekunde zu spät. Wir haben gepennt, gebummelt, es verpasst, uns in die neue Zeit einzugliedern. Jetzt müssen wir rennen, so schnell wir können, um wenigstens auf der Stelle zu bleiben. Der Virus des Verlustes ist schon in unsere Herzen gedrungen und hat unsere Herzmuskeln geschwächt.
    Ich saß in einem Zimmer mit abgeblätterten Wänden. Die Luft roch nach altem Staub. Ich befand mich in einem angemessenen Setting, in einem Zimmer, das jemand anderem gehörte, das neu erworbene
low-life
-Visum fest in der Hand, umgeben von Gepäck, das ich nicht in ein Bahnhofsschließfach sperren konnte, um dann den Schlüssel wegzuwerfen. Einem imaginären Fundbüro hätte ich mein Gepäck kaum beschreiben können, denn es ist nicht zu übersetzen. Ich saß in einem Zimmer mit abgeblätterten Wänden und hatte einen Beruf, der keine »Fremdsprachen spricht«, kam aus einem auseinander gefallenen Land und besaß eine Muttersprache, die in drei Muttersprachen aufgeteilt worden war wie ein Lindwurm mit dreifach gespaltener Zunge. Ich saß da mit einem namenlosen Gefühl der Schuld, deren Ursache ich vergessen hatte, und mit einem namenlosen Schmerz, dessen Quelle ich nicht mehr wusste.
    Ich machte den Fernseher aus, stand auf, nahm die Kassette heraus und stellte sie sorgfältig ins Regal zurück. Morgen, dachte ich, muss ich den Müll wegschaffen, neue Tapeten für das Wohnzimmer und die Diele besorgen, eine Reinigung ausfindig machen, eine Zeitung kaufen, um nach dem Datum zu sehen, denn ich wusste nicht mehr, wie viel Zeit ich in diesem Gefängnis verbracht hatte, in das ich mich selbst eingesperrt hatte. Da kam mir der Gedanke, dass der einzige Ausweg in der mechanischen Verrichtung von Handlungen besteht, in der täglichen Routine, im Abstecken des eigenen Territoriums. Morgen werde ich die hässlichen Flecken von den Wänden entfernen. Diesmal würde ich die Wände mit Gips glatt spachteln und erst dann die neuen Tapeten darauf kleben oder, noch besser, alle Tapeten herunterreißen, die Wände gründlich mit Glaspapier abschleifen und weiß streichen, ja, unbedingt weiß.
    Ich ging zum Fenster und öffnete es. Der Betonplatz war vom blassen und matten Licht der Straßenlaternen und von dem Neonschriftzug »Basis« am Gebäude gegenüber erhellt. Eine schwere, warme, subtropische Feuchtigkeit hing in der Luft. Rechts konnte ich einen Zipfel der türkisfarbenen Kuppel einer kleinen Betonmoschee sehen. Auf den Kronen der Kastanienbäume lag ein eigenartiger Glanz. In der Dunkelheit sah man auf den Balkons der umliegenden Häuser weiße Antennenschüsseln. Es war ungewöhnlich still. Der Anblick wirkte beruhigend. Vielleicht bin ich doch zu Hause angekommen, dachte ich.
    Plötzlich tauchte aus der Dunkelheit eine männliche Gestalt auf. Über die matt beleuchtete Betonbühne bewegte sich der Mann schwer und langsam, als liefe er auf dem Meeresgrund. Dann, mit der gleichen Handbewegung, als werfe er eine Zigarettenkippe weg, schleuderte er einen Knallfrosch auf den Betonboden, danach noch einen … Nicht ahnend, dass erbeobachtet wurde, hinterließ der Unbekannte in dieser Nacht seine Unterschrift, verschickte eine Botschaft ohne Inhalt und verschwand, indem er immer tiefer in die Dunkelheit hineinschritt, etwas schräg – so wollte es mir scheinen –, wie ein Hund.

4.
Der Zyklon hatte das Haus sehr sanft – zumindest für einen Zyklon – inmitten einer Landschaft von wunderbarer Schönheit abgesetzt. Überall gab es satte grüne Wiesen und stattliche Bäume, die viele saftige Früchte trugen. Wohin man blickte, blühten prächtige Blumen. Vögel in buntem und glänzendem Federkleid sangen und flatterten in den Bäumen und Büschen. In einiger Entfernung plätscherte und glitzerte ein Bächlein zwischen grünen Ufern, und sein Murmeln klang dem kleinen Mädchen, das so lange in der trockenen, grauen Prärie gelebt hatte, wie liebliche Musik in den Ohren.
    Lyman Frank Baum

    Ich verließ das Haus und ging zur nächsten U-Bahn-Station. Ich hatte sie fast erreicht, als mich ein Schlag auf den Rücken traf, so überraschend und heftig, dass mir die Luft wegblieb. Im nächsten Augenblick zerrte jemand an meiner Schultertasche. Der Riemen blieb jedoch an meiner Schulter hängen, ich drückte die Tasche fest an mich und drehte mich um.
    Vor mir standen drei Jungen mit Schulranzen auf dem Rücken, ungefähr zehn Jahre alt,
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