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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn
Autoren: Tanith Lee
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ein Strauß ausgesehen. Dann hatte Tanaquil immer im Burghof gespielt, allein mit der Amme, denn nirgendwo gab es Kinder, die annähernd in ihrem Alter gewesen wären. Als Tanaquil größer und die Amme älter wurde, verlagerten sich die Spaziergänge auf die Region außerhalb der Festung. Anfangs hatte Tanaquil großes Interesse für die Wüste an den Tag gelegt. Sie hatte Sandburgen gebaut, deren Aussehen einnehmender als das der Festung war. Doch jenseits der Schatten, die die Burgwälle warfen, brutschelten die Dünen in der Sonne. Im Umkreis von Meilen gab es keine Oase, kein Dorf. Nur in der Festung war Wasser. Als sie zunehmend älter wurde, erkundete Tanaquil die Felshügel. Die Amme schaffte es nie so weit, sondern stand für gewöhnlich irgendwo im Sand, geschützt von ihrem Sonnenschirm, und rief mit schwacher Stimme nach ihr. Im Alter von zwölf Jahren gelang es Tanaquil, bis zur Hügelkette vorzustoßen. Der Triumph wurde ihr allerdings verleidet, als sie herausfand, daß auch auf der anderen Seite nichts als Sand und nochmals Sand lag, der sich endlos bis zum lavendelfarbenen Horizont er streckte.
    Im Augenblick machte sich Tanaquil fast jeden Tag zu einem Spaziergang auf, einzig und allein, um ihre Ruhelosigkeit wenigstens mit körperlicher Betätigung zu mildern. Der Spaziergang war völlig langweilig und ohne jeden Sinn und Zweck. Aber um ihn zu unternehmen, mußte sie sich Stiefel überziehen gegen den brennenden Sand, ihr rotes Haar mit einem Seidenschal bedecken, den ein Haarband hielt. Sie ging regelmäßig bis zu den Felsen, setzte sich in deren Schatten nieder und trank einen Schluck von dem Wasser, das sie sich mitgenommen hatte. Manchmal kletterte sie an den Felsflanken hoch und löste mit ihrem Messer zerbrechliche Fossilien aus dem Gestein. Ein andermal setzte sie ihre Sandwanderung noch eine Meile in westlicher Richtung fort. Wenn sie das tat, stellte sie sich vor, daß sie von zu Hause wegging. Daß just außerhalb ihrer Sichtweite eine mächtige Stadt mit ziegelverkleideten Wällen stehe, mit Kuppeln und Gärten, Brunnen, Märkten und lärmenden Menschenmengen. Doch aus dem Unterricht, den ihre Mutter ihr, eine Stunde jeden Tag, bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr hatte angedeihen lassen, wußte sie, daß es zwar eine solche Stadt gab, aber hundert Meilen entfernt. Auch hatte Tanaquil in ihrem ganzen Leben noch keine Karawane erblickt, die in Sichtweite von Jaives Festung die Wüste durchquert hätte. Sie kamen nicht hier entlang. Die einzigen Fremden, die sie zu Gesicht bekam, waren Wüstenhändler, Hirten, wilde Hunde und Schakale. Kurz vor Sonnenuntergang stellte sich Tanaquil für gewöhnlich diesen Tatsachen, machte kehrt und wandte der Wüste den Rücken zu.
    Heute machte sich Tanaquil zu einem Spaziergang auf.
    Während sie durch den Sand stapfte und die Dünen hinunterschlidderte, beschäftigten sie zahlreiche Fragen. War der gestrige Tag so verschieden von ihren anderen Tagen hier gewesen? Hatte sie gestern diesen schrecklichen Drang, der mehr als Einbildung war, verspürt, von hier zu entfliehen? Es war, als habe sie, wie der Adler, über Nacht ihre Gestalt gewechselt. Nun war sie jemand anderes, eine andere, eine verzweifelte Tanaquil.
    Doch es war unmöglich. Sie mußte fort von hier -und konnte es doch nicht.
    Ein paar Piefel tollten am Fuße der Hügelkette herum. Sie gaben laute, rauhe Schreie von sich, und Tanaquil bemerkte, daß sie die magische Sprache noch nicht gelernt hatten.
    Sie trank Wasser aus ihrer Flasche und erklomm dann den Hügel, der wie eine Brücke geformt war, mit einer nahezu flachen Kuppe und einem großen, hohlen Bogen darunter. Sie saß auf dem Brückenberg und betrachtete sich all die alten Grabspuren, die ihr Messer in sein Gestein gekerbt hatte. Ein kleines Fossil war noch übriggeblieben, eine blasse Muschel, die jedoch so fragil war, daß sie bei einem >Befreiungsversuch< zerbröseln würde.
    Statt dessen starrte Tanaquil über die Sandebene. Langsam stellte sich eine Luftspiegelung ein, das Trugbild eines Flusses mit baumbestandenen Ufern.
    Einst war die ganze Wüste vom Meer bedeckt gewesen, das all jene Muscheln und Skelette von seltsamen, längst ausgestorbenen Wesen hier zurückgelassen hatte. Eines Nachts hatte Jaive ihrer Tochter eine Illusion von der meerüberfluteten Wüste gezeigt. Die Wellen, schaumgekrönt auf ihrem Kamm, hatten um die Festung gewogt, und der Mond hatte roter als die Sonne geleuchtet.
    »Du mußt immer daran
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