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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn
Autoren: Tanith Lee
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kickte den Stuhl und danach die Brotstückchen durchs Zimmer. Die Orange hatte sich in eine Art Blume verwandelt, die an der Säule links vom Kamin emporrankte. Das Piefel kaute daran herum. Es drehte sich um, als Tanaquil sich in das verknitterte Kleid des Vortages warf und sich mit dem Kamm durchs Haar fuhr, das von einem etwas helleren Rot als das von Jaive war. »Haste 'nen Knochen?«
    »Ich habe keinen verflixten Knochen! Sei still!« Das Piefel ließ sich nieder und putzte sich den Bauch, nunmehr besorgt »Flöhe, Flöhe« murmelnd. Dann stürzte es plötzlich den Kaminschacht hoch und verschwand, nicht ohne einen Rußschauer auf die Feuerstelle herunterschweben zu lassen.
    Tanaquil verließ den Raum kurz darauf mit einem kräftigen Türknallen.
    Vier breite, steinerne Treppenfluchten mit holzgeschnitzten Geländern, die Tiere, Früchte, Dämonen und Ähnliches zeigten, führten von Tanaquils Stockwerk zu den Lieblingsgemächern ihrer Mutter. Auf jedem Treppenabsatz führte eine Öffnung auf die Dächer und Zinnen, und an einem dieser Ausgänge sah Tanaquil drei Soldaten sitzen und ein Skorpione- und -Leitern-Spiel machen. Wie üblich waren sie alle betrunken, doch als Tanaquil vorbeiging, rief einer von ihnen ihr zu: »Geht nicht hoch, Herrin. Die Zauberin ist beschäftigt.«
    »Was für ein Pech«, erwiderte Tanaquil. Außer Atem erklomm sie die letzte Treppenflucht und stand vor der großen schwarzen Tür, die das Zauberreich ihrer Mutter bewachte.
    Mitten auf der Tür befand sich ein Kopf aus grüner Jade, der sich alsbald an Tanaquil wandte. »Du wünschst Jaive zu sprechen?«
    »Sieht ganz so aus.«
    »Nenne mir deinen Namen und deinen Rang!«
    »Tanaquil, ihre Tochter.«
    Der Kopf schien den Mund zu verziehen, doch die Tür gab ein Knirschen von sich und schwang schwerfällig auf.
    Das Gemach dahinter war voll von öligem Rauch und fahlen Blitzen. Nichts Neues für Tanaquil. Sie trat ein und suchte sich ihren Weg zwischen herumstehenden Kisten und mit Gegenständen vollgestopften Regalen, aus denen es hier und da piepste und zwitscherte. Plötzlich war da ein großer Spiegel, und darin erhaschte Tanaquil einen flüchtigen Blick auf eine brennende Stadt, Türme und Funken und Wesen, die durch die Luft flogen. Dann verschwand die Vision, und der Rauch legte sich. Aus den sich senkenden Nebelschwaden tauchte Jaive auf. Sie stand hinter einem mit Büchern, Glaskugeln, Instrumenten, Stäben und farbigen, blubbernden Substanzen bedeckten Tisch. In einem geräumigen Käfig saßen zwei weiße Mäuse mit Kaninchenohren und Schlangenschwänzen, die eine Wurst verspeisten. Jaive trug ein bodenlanges Gewand aus schwarzgrüner Seide, das mit Goldstickereien besetzt war. Das Haar umflammte ihr Haupt wie die brennende Stadt in dem Spiegel. Sie runzelte die Stirn.
    »Was willst du?« fragte Tanaquils Mutter.
    »Soll ich dir eine Liste schreiben?« schnappte Tanaquil zurück.
    »Ich habe zu tun ...«, erklärte Jaive.
    »Das hast du immer. Hast du dein Frühstück heute morgen genossen, liebste Mutter? Meins hatte einen Vogel in seinem Kern und verwandelte sich anschließend in eine Kletterblume. Eins der Piefel hat dann den Rest besorgt und es verschüttet. Aus meinem Waschbrunnen floß Beerenwein. Der Großteil meiner Kleider ist verschwunden. Ich hab es satt!«
    »Was soll der Unsinn?« wollte Jaive wissen.
    »Mutter, du weißt genau, daß alles hier wegen deiner Magie ein gigantisches Tohuwabohu ist, wegen all dieser Macht-Lecks und Nebeneffekte deiner Beschwörungen. Es ist gräßlich.«
    »Ich suche nach Wissen«, entgegnete Jaive. Ohne sonderliche Überzeugung fügte sie hinzu: »Wie kannst du es wagen, so mit deiner Mutter zu sprechen?«
    Tanaquil setzte sich auf etwas Hundeartiges, das sich vorübergehend in einen Schemel verwandelt hatte.
    »Als ich klein war«, setzte Tanaquil erneut an, »fand ich das alles noch wunderbar. Als du die Schmetterlinge aus dem Feuer kommen ließest und den Garten in der Wüste hast wachsen lassen. Doch die Schmetterlinge machten >plop<, und der Garten löste sich in ein Nichts auf.«
    »Was für kindische Erinnerungen«, tadelte Jaive sie. »Ich habe versucht, eine Zauberin aus dir zu machen.«
    »Ohne sonderlichen Erfolg«, spottete Tanaquil. »In der Tat, entsetzlich«, pflichtete ihre Mutter ihr bei. »Du bist leider eine reine Mechanikerin, fürchte ich-« Sie vollführte eine Handbewegung über einem Becher, woraufhin ein winziger Sturm sich erhob, Jaive lachte vor
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