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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn
Autoren: Tanith Lee
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bestand, schimmerte wie poliertes Milchkristall. Und in dem Kristall befanden sich kleine, sprinkelnde Flecken und Glitzer, wie Diamanten — nein, wie die Sterne draußen am Himmel.
    »Ein Knochen?« flüsterte Tanaquil. »Wo hast du ihn gefunden?«
    »Hab ihn gefunden«, entgegnete das Piefel.
    »Aber wo ?«
    »Sandig«, sagte das Tier, »heiß.« Es blinzelte und nahm den Knochen wieder sanft ins Maul.
    Tanaquil streckte die Hand aus, um das Ding zu berühren. Das Piefel knurrte und peitschte mit dem Schwanz, wobei es ein hämmerndes Geräusch gegen die Fensterläden produzierte. »Meins.«
    »Ja, schon gut, ich weiß, daß es deins ist. Aber schließlich hast du es angeschleppt, um es mir zu zeigen. Laß mich ... «
    »Grrrr«, machte das Piefel.
    Es bewegte sich geduckt rückwärts, und die unglaubliche Röhre aus Sternenlicht glänzte zwischen seinen Zähnen.
    »Das darfst du nicht — nicht zerbeißen«, schrie Tanaquil.
    Das Piefel verzog sein Gesicht und warf sich urplötzlich in einer Art von horizontalem Purzelbaum herum. Es floh mit funkenstiebendem Fell und peitschendem Schwanz, rutschte und stolperte über das Dach unter ihrem Fenster, um über eine ornamentale Wetterfahne im Labyrinth der Dunkelheit darunter zu verschwinden.

 
2
     
    Am Morgen war es immer noch dämmrig in der Küche. Die Öllampen brannten, und die Köchin löste die Nadeln aus ihrem Haar, während Kissen ihr Kind in der Spüle badete. Tanaquil trat näher und begann, nachdem sie tapfer den Abfallkübel geöffnet hatte, den Müll zu durchstöbern.
    »Was, um alles in der Welt, sucht Ihr dort, Herrin?«
    »Ich sehe mich nach einem netten saftigen Knochen um.«
    Kissen gab einen unterdrückten Schrei von sich.
    Die Köchin wandte sich mit einschmeichelnder Stimme an sie: »Aber Herrin, wartet einen Augenblick, und ich brate Euch ein wenig Brot an ... «
    »Nein, danke, ich brauche einen Knochen, an dem noch ein paar leckere Fleischfetzen hängen - gegrillt oder roh, das ist mir gleich.«
    »Armes Mädchen«, meinte Kissen.
    »Schon seit Monaten habe ich hier so etwas nicht mehr gehabt«, antwortete die Köchin, »seit dem letzten Abendessen in der Halle nicht mehr. Ist es das Mark, das Ihr sucht, vielleicht für eine Suppe?«
    »Er ist nicht für mich«, klärte Tanaquil das Mißverständnis verärgert auf. Der Abfall enthielt Haut und Eierschalen, verschimmelte Krusten und weiteren unerfreulichen Müll. Keine Knochen, keine Fleischreste. Sie wußte, daß die Küche sich für gewöhnlich einmal in der Woche einen riesigen Braten zubereitete. Aber vielleicht waren sie ja in letzter Zeit etwas nachlässig geworden. »Was habt ihr denn sonst? Fetten Speck? Den kannst du dann für mich auf einen Toast legen, dick bitte, und eine Tasse von diesem grünen Tee dazu.«
    »Grün?« Die Köchin schüttelte ihre Lockenpracht. »Wir haben hier keinen grünen Tee. Muß noch ein Ausläufer von Madams Magie gewesen sein.«
    Tanaquil blieb in der Küche, bis Toast und Speck fertig waren. Während sie wartete, verspeiste sie eine Orange und beobachtete, wie Kissens Kind versuchte, ihre Puppe auf dem Ofen zu zerschmettern, aber die Puppe überlebte es und krähte unablässig >Mama< Mit dem Frühstück bewaffnet eilte Tanaquil die Treppen hinauf in ihr Zimmer und legte den schleimigen Toast auf das Fensterbrett, um das Piefel anzulocken. Sie hatte die ganze Nacht über die Läden offenstehen lassen, aber das Piefel war nicht zurückgekehrt. Irgendwo mußte es sein Nest haben, angefüllt mit den Dingen, die es ausgegraben oder gestohlen hatte. Aber sie wußte nicht, wo. Und woher war der Knochen gekommen? Irgendwo aus dem Sand, während der heißen Tageszeit —Tanaquil war der Gedanke gekommen, daß der Knochen des Piefels ein ganz gewöhnlicher Knochen sein könnte, verändert durch die magische Kraft der Festung. Und doch hatte es nicht so ausgesehen, nicht so gewirkt. Die magischen Kräfte riefen immer etwas Lächerliches oder Beängstigendes hervor. Der Knochen jedoch war etwas ganz Besonderes gewesen.
    Tanaquil saß an ihrem Arbeitstisch, hantierte mit den Fossilien herum und reinigte ihre Arbeitswerkzeuge, von denen eins sich wie eine Schnecke aufgerollt hatte und dringend geglättet werden mußte. Und dann saß sie nur einfach mit in die Hände gestütztem Kinn da und stierte auf das offene Fenster.
    Das Piefel kam nicht zurück. Sie hatte es verärgert oder verängstigt. Vielleicht hatte es den Knochen entzweigebissen und verschlungen - nein,
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