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Das Mädchen: Roman (German Edition)

Das Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen: Roman (German Edition)
Autoren: Angelika Klüssendorf
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Schläge verteilt werden oder Stubenarrest. Elvis erscheint ihr klein für sein Alter, und sie sucht vergebens nach etwas Vertrautem in seinem Gesicht.
    Gegen Abend wird Alex unruhig, sie kann sehen, wie er angestrengt über den Flur lauscht, und als die Mutter in der Küche erscheint, wird sein Gesicht leer und ausdruckslos. Laut gähnend betrachtet die Mutter ihre Tochter. Bist du dünn, sagt sie, dünn wie ein Stock. Doch dann scheint sie sich zu besinnen, nimmt sie in die Arme, sagt, mein gutes Pferdchen.
    Die Mutter wird schon am nächsten Morgen zu einer Urlaubsreise an den Balaton aufbrechen und erst am letzten Tag der Schulferien wieder da sein. Ich bezahle dich, du bekommst jeden Tag zehn Mark. Die Mutter entkorkt eine Weinflasche, zündet sich eine Zigarette an. Du kannst Mama spielen und wirst bezahlt dafür. Sie starrt abwesend dem Rauchfaden hinterher. Das hätte mir mal jemand bieten sollen.
    Später im Bett hört sie die Mutter herumhantieren, singen und leise Flüche ausstoßen. Sie hat geglaubt, sie wäre stärker geworden, doch kein einziges Widerwort hat sie sich zu sagen, nicht eine einzige Frage zu stellen gewagt. Sie ist froh, dass die Mutter verreist.
    In den nächsten Tagen geht sie mit ihren Brüdern einkaufen, füllt den Kühlschrank auf, brät Buletten, probiert einen Kuchen, der ihr gründlich misslingt. Sie stellt die Möbel im Kinderzimmer um, klebt bunte Bilder an die Wände. Anfangs nimmt sie ihre Aufgaben ernst, widmet sich Elvis und versucht ihm wieder näherzukommen. Sie liest ihm Märchen vor, macht verschiedene Tierstimmen nach, denkt sich kleine Theaterstücke aus, die sie ihm vorführt. Alex will sich nichts mehr von ihr sagen lassen, und einmal verpasst sie ihm eine Ohrfeige, über die sie selbst erschrickt. Er schlägt mit dem Kopf an die Wand, seine rechte Augenbraue platzt auf.
    Die Sommertage ziehen sich, die Langeweile umgibt sie wie ein wabernder Dunst, sie hat keine Lust mehr zu kochen oder mit den Brüdern spazieren zu gehen, auch ins Schwimmbad will sie nicht. Oft hat sie Kopfschmerzen, fühlt sich nicht gut. Am liebsten möchte sie nur schlafen. Doch dann hält sie es im Bett nicht mehr aus und verlässt mit einer Ausrede die Wohnung, geht allein durch die Straßen oder ins Kino. Die Nachmittagsvorstellung zeigt eine Woche lang Die Csárdásfürstin , ein Film aus den fünfziger Jahren mit Johannes Heesters, und sie sitzt jeden Tag dort, neben seufzenden älteren Damen, die verzückt mitsummen.
    Sie bleibt im Bett, liest in ihren alten Märchenbüchern, hört Radio – das Wohnzimmer mit dem Fernseher hat die Mutter natürlich verschlossen –, oder sie beobachtet die Arbeiter gegenüber in der Werkzeugfabrik.
    Manchmal streitet sie mit Alex, will ihn dazu bringen, ihr zu gehorchen. Doch es gibt auch Augenblicke, in denen sie sich von ihm bezwingen lässt, dann liegt sie auf dem Bett, er kitzelt sie, bis ihr das Herz in den Ohren dröhnt, und während er ihr Nachgeben ausnutzt, sie verspottet, übermütig an ihr herumzerrt, spürt sie einen tiefen Frieden, sich nicht wehren zu müssen.
    Als ihnen in den letzten Ferientagen das Geld ausgeht, zeigt sie Alex, wie gut sie sich aufs Klauen versteht. Sie schlagen sich den Bauch voll mit Schokolade, Bonbons und Lakritze; sie rätseln, ob Lakritze wirklich aus Pferdeblut besteht. Das dreckige Geschirr türmt sich, der Mülleimer quillt über, sie waschen sich kaum, es gefällt ihr, schmutzig zu sein.
    Sie haben nicht damit gerechnet, dass die Mutter schon in der Nacht vor dem letzten Ferientag zurückkommt. Sie sind noch wach, von der Hitze entkräftet, können nicht schlafen. Als sich der Schlüssel im Türschloss dreht, denken sie zuerst an Einbrecher. Sie hören eine Männerstimme, dann die Stimme der Mutter, sie klingt aufgekratzt, beide Stimmen werden leiser, verschwinden im Schlafzimmer. Sie wagen kaum zu atmen, können es nicht fassen, so glimpflich davongekommen zu sein.
    Obwohl Alex und sie frühmorgens gemeinsam versuchen, ihre Schmutzspuren zu beseitigen, ahnt sie bereits die Nutzlosigkeit ihres Unterfangens. Deshalb hat sie ihre Sachen schon gepackt. Als die Mutter den Mann verabschiedet hat und sie allein mit ihr in der Wohnung sind, scheint sich die Raumtemperatur zu verändern. Während Alex und Elvis angststeif in der Küche sitzen, sich unter den scharfen Tönen der Mutter wegducken, wirft sie trotzig den Kopf zurück und schnappt sich ihre Tasche. Sie will noch etwas Treffendes sagen, doch das Geschrei ist
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