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Das Mädchen: Roman (German Edition)

Das Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen: Roman (German Edition)
Autoren: Angelika Klüssendorf
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ohrenbetäubend geworden, übertönt sogar das Knallen der Wohnungstür.
    Draußen vibriert die Luft vor Hitze, sie hat noch ein paar Stunden, bis der Bus abfährt, und läuft durch die Straßen. Sie entdeckt die alte, blinde Frau mit ihrem Stock, stellt sich vor, wie sie die Frau am Arm nimmt und sie mitten auf der Fahrbahn stehen lässt. Sie malt sich aus, wie die Autos nicht mehr bremsen können, eine Massenkarambolage entsteht und die blinde Frau tot auf der Straße liegt. Eine Weile läuft sie der Blinden hinterher, doch dann sieht sie ihr Gesicht, das ihr uralt und einsam erscheint, und sie verspürt Mitleid mit ihr. Sie geht in die Kaufhalle und schlendert dort durch die Gänge, lässt ihre Hand lässig über die Schokolade im Regal gleiten, während ihr Blick ganz woanders weilt, und als sie das Geschäft verlässt, hat sie reichlich Proviant in ihrer Tasche. Bis zum Abend streift sie ziellos umher, geht ins Kaufhaus und probiert Kleider an, doch alle hängen viel zu groß an ihr herum, sie zieht den Reißverschluss an einem der Kleider so heftig zu, dass er kaputtgeht.
    Am Busbahnhof begrüßt sie Mui, Radatte, die anderen Kinder. Anders als auf der Hinfahrt sitzen sie diesmal verhalten im Bus, keine Freude in den Gesichtern, dafür blaue Flecke und der Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden. Es wird ihr nie wieder passieren, nimmt sie sich vor, hoffnungsvoll irgendwohin zu fahren.

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    23
    Manchmal muss sie einfach so lachen, über nichts, genauso abrupt kann ihre Stimmung in Zorn umschlagen. Ihr Strichkörper hat winzige Hügel bekommen, zwei geschwollene Brustwarzen, die sie misstrauisch beäugt, ihr Hamster ist mit dunklem Flaum bedeckt, ihre Füße erscheinen ihr riesig. Sie hat das Gefühl, anders zu riechen als sonst. Als sie einmal nach der Schule bei Conny im Garten sitzt, glaubt sie zu bemerken, dass Bernd sie anstarrt. Er fragt sie, ob sie noch einmal seine Indianerposter sehen will. Sie folgt ihm die Treppe hinauf, betrachtet Winnetou und Old Shatterhand an den Wänden, spürt ihn hinter sich stehen und atmen. Er legt sacht seine Hände auf ihre Schultern, dann zieht er sie auf sein Bett und küsst sie.
    Auf dem Weg zurück ins Kinderheim fühlt sie sich verstört, sie kann es nicht glauben, dass der schönste Junge im Ort sie gemeint hat mit seinen Küssen. Warum hat er sie geküsst? Ist er in sie verliebt? Sie beschließt, verliebt zu sein. Abends bittet sie Radatte, ihr noch einmal die Kussprüfung abzunehmen. Eigentlich findet sie Küssen langweilig, nach einiger Übung bekommt sie eine Zwei minus.
    Das nächste Mal beginnt Bernd nach ihrer Brust zu tasten, sie wehrt sich, von Scham überwältigt, dass er die Socken in ihrem BH fühlen könnte. Er darf alles, nur ihrer Brust darf er nicht zu nahe kommen. Er geht behutsam vor, küsst sie vorsichtig auf Schultern und Hals, seine Hand ist vor allem an einem Punkt interessiert, und der sitzt zwischen ihren Beinen. Diese Berührungen scheinen ihm besondere Freude zu bereiten, und wird sie nicht wenigstens dort wie alle anderen Mädchen beschaffen sein?
    Sie ist nun wirklich verliebt, hat alle Symptome, von denen Mui und Conny ihr berichtet haben: Sie bekommt kaum Luft, und sie lässt die letzte Begegnung wie einen Film immer wieder in ihrem Kopf ablaufen. Aber sie fühlt noch etwas anderes, Angst, dass sich alles als ein Irrtum herausstellt, als ein böser Scherz, denn es bleibt ihr nach wie vor ein Rätsel, warum sich Bernd ausgerechnet mit ihr abgibt.
    Er geht mit ihr im Wald spazieren, und sie spürt weder die warme Luft, noch nimmt sie etwas anderes wahr, sie ist nur darauf bedacht, alles richtig zu machen. Sie ist noch nie mit einem Jungen spazieren gegangen. Sie bemüht sich, ihm nicht ihr Profil zu zeigen, sie findet ihre Nase zu groß. Deshalb sieht sie ihn dauernd an, und bald schmerzt ihr der Nacken. Bernd hat eine Decke dabei, auf einer Lichtung breitet er sie aus. Er küsst sie sofort, diesmal anders als sonst, kräftiger, nicht so zärtlich. Aus der Ferne ertönt das Geschnatter der Gänse, doch eigentlich ist sie viel zu weit von der Farm entfernt, um es hören zu können, der Wind muss von Südwest kommen, denkt sie, obwohl sie doch gar nichts von Windrichtungen versteht. Sie zieht sich selbst die Hosen aus, damit er die Trainingshose darunter nicht bemerkt. Dann liegt sie regungslos da, blinzelt in den Himmel, sie kann Federwolken erkennen, eine Wolke ähnelt einem Schaf, einem Schafsbock mit schneckenförmig gedrehten
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