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Das Mädchen: Roman (German Edition)

Das Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen: Roman (German Edition)
Autoren: Angelika Klüssendorf
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hinterher völlig außer Atem ist. Sie zielt mit ihrem Finger auf die Stirn ihres Bruders, peng, schreit sie, und noch einmal, peng, peng, peng, dann klopft sie an seine Stirn, wie man an eine Tür klopft. Los, steh auf, sagt sie, wir müssen dich schön machen. Mit den Resten des Lippenstifts malt sie ihm kreisrunde Flecken auf die Wangen, dann beschmiert sie seine Lippen. Als er sich zu wehren versucht, knallt sie ihm eine. Sie sieht in seinen Augen die gleiche Angst wie ihre eigene, und das macht sie wütend. Sei bloß ruhig, faucht sie, obwohl er stumm ist wie ein Fisch. Willenlos lässt er sich von ihr ausziehen, doch als sie versucht, ihm den Büstenhalter am Rücken zuzuknoten, merkt sie selbst, dass es lächerlich aussieht, Alex ist noch magerer als sie. Sie hört ihren Magen knurren und holt aus der Speisekammer das letzte Zwiebackpäckchen. Sie tunkt einen Zwieback in das Senfglas, und während sie kaut, spürt sie, wie sich die Schärfe wohltuend hinter ihrer Stirn ausbreitet.
    Sie weiß nicht, wie spät es ist, die Stunden ziehen sich wie Wolkenketten, die am Horizont verschwinden. Sie betrachtet ihren Bruder. Alex mit seinen langen blonden Locken ist der Liebling der Mutter. Aber das bedeutet nicht viel, denn auch er kann einfach so in Ungnade fallen, ein böses Kind sein, ein verweichlichter Bastard, der bestraft werden muss. Er sitzt wieder auf dem Boden, umklammert seine Beine, schaukelt hin und her. Als sie den Schlüssel im Schloss hören, halten sie den Atem an. Sofort sieht sie die Wohnung mit den Augen der Mutter. Sie haben alles verkommen lassen, ein Zimmer ist schmutziger als das andere. Die Mutter geht langsam an ihnen vorbei, ohne sie anzusehen.
    Das Herz pocht ihr den Hals herauf, sie schließt die Augen, eigentlich will sie nur davonkommen, und manchmal gelingt es ihr.

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    In ihrem Zeugnis steht, dass ihre guten geistigen Fähigkeiten ungenutzt bleiben. Sie hat immer denselben Tagtraum: In der Nachkriegszeit bringt sie sich und ihren Bruder als Meisterdiebin und Schwarzmarktkönigin durch die Hungersnot. Im Wald baut sie ein Haus aus Steinen oder aus Holz, mit Kamin oder Ofen – die Vorstellungen wechseln, sie richtet es vollständig ein, und die Vorratskammer ist mit den wunderbarsten Speisen gefüllt, im Garten hat sie Gemüse angepflanzt, abends sitzt sie mit ihrem Bruder an einem Tisch, sie essen Kartoffeln, die frisch aus der Erde kommen.
    In den Schulpausen stellt sie sich zu den flüsternden, kichernden Mädchen und tut so, als würde sie dazugehören. Seit ein paar Tagen wird in den Pausen ein Lied aus dem Westen gesungen: »Am Tag, als Conny Kramer starb« – die Mädchen können den Text auswendig und singen die Strophen immer wieder aufs Neue ergriffen. Sie imitiert die Gesten der anderen Mädchen und versucht sich beim Singen in deren Pathos hineinzusteigern, versucht ein genauso durchgedrehtes Gesicht wie sie zu machen.
    Es kommt vor, dass sie von eifrigen Lehrern zum Sozialobjekt erklärt wird und eine der besseren Schülerinnen die Patenschaft für sie übernimmt. Sie muss ihr dann die Hausaufgaben vorzeigen, wohlmeinende Worte erdulden, sich von ihrer Wichtigtuerei beleidigen lassen.
    Einmal wird sie von einem Mädchen, das die Patenschaft für sie übernommen hat, nach Hause eingeladen. Während sie Katrins Mutter begrüßt, starrt sie gebannt auf ihre großen Nasenlöcher, die sie an die Nüstern eines Pferdes erinnern. In Katrins Zimmer verbirgt sie ihren Neid hinter einem verlegenen Grinsen und betrachtet aufmerksam den hübsch angeordneten Mädchenkrimskrams in den Regalen. Sie erklärt sich bereit, »Der Prinz und die Prinzessin heiraten« zu spielen, aber sie verlangt dafür ein Geschenk. Katrin reicht ihr ein blaues Tuch, das mit silbernen Sternen bestickt ist. Das ist für den Prinz, sagt Katrin und wirft sich selbst einen goldenen Umhang über die Schultern.
    Schenkst du es mir? Sie läuft ein paar Schritte, lässt das blaue Sternentuch durch die Luft wehen.
    Warum?, sagt Katrin und schaut sie verblüfft an.
    Darum, sagt sie.
    Das erlaubt meine Mutter nicht.
    Diese Antwort birgt für sie einen Funken Hoffnung. Deine Mutter muss es nicht erfahren, sie versucht ihre Stimme verschwörerisch klingen zu lassen.
    Katrin überlegt eine Weile, dann schüttelt sie den Kopf.
    Sie verlegt sich aufs Betteln, schenk es mir, sagt sie, ich muss es haben. Sie wirbelt umher, springt aufs Bett, über den Teppich und ruft: Schenk es mir, bitte, bitte, schenk es mir,
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