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Das Mädchen: Roman (German Edition)

Das Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen: Roman (German Edition)
Autoren: Angelika Klüssendorf
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Unkraut wuchert aus dem brüchigen Asphalt, die Straßenbahn bewegt sich wie im Traum. Alex bläst die Samen einer Pusteblume in alle Richtungen. Schweiß prickelt auf ihrer Haut. Noch immer ist Armin nicht aufgetaucht. Sie kaut an den Nägeln und spürt, wie die Hoffnung sie verlässt. Ihr Bruder hat Durst und will in den Schatten. Während sie wortlos vor dem Kino ausharren, ist ihr, als wäre sie von tausend Schichten heißem Staub überzogen. Doch als Armin in seinen ausgebeulten kurzen Hosen auf sie zukommt, stört sie die Hitze nicht mehr, und sie lächelt ihm entgegen.
    Wahnsinnshitze, murmelt er und reicht ihr die Hand, auf seiner Stirn stehen Schweißperlen, die sie berühren könnte, so nah ist sie ihm. Alex sitzt auf einer niedrigen Mauer und fächelt sich mit der Hand Luft zu. Armin hebt einen kleinen Stein auf, wirft ihn ihrem Bruder vor die Füße und ruft: He, schöne Thusnelda.
    Plötzlich hört sie sich losplappern und kann nicht mehr aufhören. Sie erzählt Armin von Edmond Dantès, dem Grafen von Monte Christo, und sie übertreibt, als wäre der Graf ein guter alter Freund, der seine Geheimnisse mit ihr teilt. Armin reibt sich den Nacken, hört ihr zu, lacht sogar, das fetzt ein, sagt er, und sie fühlt sich, als würde sie ein paar Zentimeter vom Boden abheben.
    Zuerst verfolgt Alex das Geschehen aus der Ferne, doch dann sieht sie aus den Augenwinkeln, wie er aufsteht und langsam näher kommt. Er stellt sich zwischen sie und Armin, zupft an ihrem Kleid und sagt: Ich habe Durst. Sie tut so, als wäre er Luft, doch Armin legt sogleich seine Hand auf Alex’ Schultern und sagt: Na, kleine Prinzessin.
    Selbst als sie es schließlich begreift, sagt sie Armin nicht, dass die blond gelockte Prinzessin ihr Bruder und somit ein Junge ist. Sie sieht genau, wie es sein kann, wenn jemand einem anderen gefällt.
    Kleine Thusnelda, kleine Prinzessin, sagt Armin immer wieder, streicht eine Locke aus Alex’ Stirn und kringelt sie um seinen Finger. Thusnelda, Thusnelda, lustiger Name, sagt er mit flirrender Stimme, als würde er gleich zu singen beginnen. Ihr Bruder schweigt verwundert, doch sie merkt, dass es ihm nicht unrecht ist. Er starrt Armin mit einem scheuen Lächeln an und hält ganz still, als dieser ihn zum Abschied umarmt. Ich will euch bald wiedersehen, sagt Armin, ohne den Blick von Alex zu lassen. Ihr Herz hämmert, obwohl sie nichts weiter als die Kupplerin ihres Bruders ist. Doch dann spürt sie ihren Durst und die Müdigkeit in den Gliedern, sie fühlt sich schwach, die Luft riecht anders als sonst.
    Alex aber möchte noch nicht nach Hause, er scheint hellwach, seine Augen leuchten. Er will noch ein Abenteuer erleben. Er bettelt, geht ihr auf die Nerven, und als sie endlich ihrem Lieblingsspiel zustimmt, ist sie erst nur halb bei der Sache. Doch schon bald lässt sie sich mitreißen, zwischen Auspuffgasen, Hupen und quietschenden Bremsen rast sie knapp vor den Autos über die Straße. Sie hört Alex übermütig kreischen, auch er bringt die Autofahrer in Rage, sie sind ein gutes Team, der eine läuft von der linken, der andere von der rechten Straßenseite los, manchmal berühren sich ihre Hände in der Mitte. Doch dann quietschen Bremsen, und sie hört ein Heulen, das ihr vertraut und gleichzeitig fremd erscheint. Alex liegt vor einem gelben Trabant, und von überall kommen Menschen angelaufen. Der Fahrer steigt aus und schreit, dass ihm der Junge direkt ins Auto gerannt sei. Sie steht vor ihrem Bruder, ihre Füße sind wie festgewachsen, sie kann sich nicht rühren. Er liegt mit dem Gesicht nach unten, den Körper verdreht, einen Arm ausgestreckt und wimmert, sie sieht Blut in seinem Engelshaar.

[Menü]  
    7
    Es sind Sommerferien. Alex sitzt mit seinem Schnorchel in der Ecke und atmet laut. Nach dem Unfall war er für kurze Zeit im Krankenhaus. Wegen seines gebrochenen Schlüsselbeins hat er einen Verband, der ihn verwachsen aussehen lässt. Sie betrachtet eine Fliege, die über ihren Arm spaziert. Sei still, sagt sie zu ihrem Bruder, psst. Sie hat das Gefühl, mit Alex stimmt überhaupt nichts mehr. Die Fliege schwirrt durchs Zimmer, macht einen kurzen Halt an der Fensterscheibe und landet abermals auf ihrem Arm. Ob Insekten sich dressieren lassen? Wenn sie sich langweilt, fallen ihr oft solche Fragen ein. Frieren Bäume im Winter? Können Ameisen traurig sein? Die Mückenstiche an ihren Beinen jucken, sie kratzt sich einen nach dem anderen blutig. Hör auf, faucht sie ihren Bruder an, sei
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