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Das Mädchen: Roman (German Edition)

Das Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen: Roman (German Edition)
Autoren: Angelika Klüssendorf
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endlich still. Am liebsten würde sie seinen Schnorchel aus dem Fenster werfen, doch dann würde er nur blöd herumheulen. Sie öffnet die Tür, auf dem Flur ist alles ruhig. Die Mutter liegt noch im Bett, seit einigen Tagen führt sie sich wie eine Rasende auf, trommelt mit den Fäusten auf ihren dicken Bauch, schreit, dass sie diesen Bastard nicht haben will. Sie schlägt ihre Kinder, wenn ihr danach ist, gibt sich keine Mühe mehr, einen Grund zu erfinden, ihre Schwerfälligkeit macht sie noch zorniger. Der Vater kommt selten nach Hause, auch sein Gesichtsausdruck ist finster, er lacht nur, wenn er richtig betrunken ist, und sein Jähzorn hält stets Überraschungen bereit. Bei ihrem letzten gemeinsamen Abendessen hat er, eine Zigarette im Mundwinkel, aus heiterem Himmel eine ganze Leberwurst an die Wand geworfen.
    Sie steht abwartend vor dem Bett der Mutter und horcht, um an den Atemzügen zu erkennen, ob sie aufbrausend oder ruhig reagieren wird, wenn sie sie anspricht. Leise fragt sie, ob sie runter dürfen. Sie wiederholt die Frage, diesmal lauter. Die Mutter rührt sich nicht. Sie probiert es noch lauter. Dürfen wir raus?, ruft sie. Als die Mutter kurz die Augen aufschlägt, murmelt sie nur: Verschwinde, lass mich in Ruhe. Das sagt sie fast immer, doch diesmal beschließt ihre Tochter, dass in diesen Worten eine gewisse Freiheit liegt.
    Hinter dem Schwimmbad klettert sie mit Alex durch ein Loch im Zaun. Seit die Mutter nicht mehr arbeitet, kann sie ihr auch kein Geld mehr aus der Kellnertasche stehlen. Sie zieht sich um, rennt zum Becken und springt vom Dreimeterbrett. Ihr Bruder bleibt missmutig am Rand der Wiese unter einem Baum zurück, wegen seines Verbands darf er nicht ins Wasser. Ab und an sieht sie von Weitem nach ihm, darauf bedacht, dass er sie nicht bemerkt. Den Schnorchel im Mund, starrt er abwesend in die Luft. Sie springt immer wieder vom Dreimeterbrett, springt so lange, bis es in ihren Ohren klingelt. Als sie taucht, versucht sie eine Weile auf dem gefliesten Grund zu bleiben und sich flach mit dem Rücken an die Kacheln zu schmiegen. Sie beobachtet die Körper, die im Wasser über sie hinwegschwimmen, und stellt sich vor, sie würde oben schwimmen und sich unten liegen sehen.
    Am Nachmittag steht sie mit blauen Lippen vor ihrem Bruder, hüpft auf und ab. Alex hat immer noch seinen Schnorchel im Mund, reagiert nicht auf ihre Fragen. Vielleicht ist er krank, ernsthaft krank. Sein linkes Augenlid zuckt, er reibt ständig die Finger aneinander, und er hat sich angewöhnt, ruckartig seinen Mund aufzureißen, bevor er spricht, als ob er die ganze Welt verschlucken wollte. Sie spürt Mitleid, wenn er seine Ticks abzieht, neuerdings schlägt er auch noch mit den Füßen aus, einem Esel ähnlich oder, wie ihre Mutter meint, einem kranken Stück Scheiße.
    Er hat Angst, nach Hause zu gehen. Doch diesmal konzentriert sich der Zorn der Mutter ganz auf die Tochter. Nachdem sie ihre Abreibung erhalten hat, muss Alex sie in den Keller bringen. Sie atmet auf, als er hinter ihr abschließt, nimmt den vertrauten Geruch nach Kohlenstaub und feuchten Mauern wahr. Hier muss sie niemandem zuliebe etwas tun, was sie nicht will.
    Ein Lichtstrahl fällt durch den Spalt der Fensterluke, sie steigt auf den Kohlehaufen, um nach draußen zu sehen. Der Spalt zeigt immer denselben Ausschnitt, den Bürgersteig, vom Wurzelgeflecht einer mächtigen Platane durchzogen, manchmal Schuhe mit halben Beinen, bis ans Knie. Sie geht durch den Raum, liest die von ihr in die Mauern geritzten Inschriften, kann sich schon nicht mehr entsinnen, was sie bedeuten, 7x34 zum Beispiel, eine Geheimzahl? Unter den Regalen mit dem Eingemachten steht ein alter Lederkoffer ihres Vaters, den Inhalt kennt sie beinahe auswendig: beschriebene Blätter, alte Magazine und Zeichnungen. Auf den Zeichnungen sind nackte Frauen in verschiedenen Posen zu sehen, durchaus gekonnt dargestellt, findet sie, aber mehr noch interessieren sie die Kriminalgeschichten, die ihr Vater mit grüner Tinte aufgeschrieben hat. Ein Inspektor Bachulke deckt im Alleingang einen Bankraub auf, und an den markigen Sprüchen erkennt sie ihren Vater wieder. Es rührt sie, dass er davon träumt, ein Held zu sein, doch sie ahnt auch, dass er niemals ein richtiges Buch schreiben wird. Sie kann die Gründe dafür nicht genau benennen, aber sie ist sich sicher, er wird niemals etwas zu Ende bringen. Neben dem Koffer befindet sich ein großer Bücherstapel, ihr liebster Schatz in diesem
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