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Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)

Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)

Titel: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Autoren: Kira Gembri
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Erzählung ständig gefragt: Was kann das sein? Wer würde es wagen, einen derart grausamen Spott mit mir zu treiben? Aber wenn es nun kein Spaß ist! Wie kann eine ungebildete Quacksalberin so viel über das Reich unseres Feindes wissen, über die Rüstung, die Landschaft, die Flagge? Ich finde keine Antwort auf diese Frage. Vielleicht kannst du mir weiterhelfen?“
    Reevas Schultern spannten sich an, krampfhaft umklammerte sie den noch halbvollen Kelch. Was bedeuteten die Worte des Königs? Hatte er sie nicht richtig verstanden? Schon holte sie Luft, um ihre Erzählung zu wiederholen, doch er schien ohnehin keine Reaktion von ihr zu erwarten. Seine Stimme klang auf einmal gänzlich verändert, als er fortfuhr:
    „Was ich eben sagte, entsprach nicht völlig der Wahrheit. Ich habe eine mögliche Antwort gefunden, auch wenn sie ungeheuerlich erscheint: Vielleicht gibt es tatsächlich feindliche Spitzel, die ihr Land vor unserem Überraschungsangriff warnen wollen – und vielleicht bist du, fremdes Mädchen, eine von ihnen.“
    Es klirrte, als der Kelch aus Reevas Händen glitt und Metall auf Stein prallte.
    Der König richtete sich ein wenig in seinem Bett auf. „Wolltest du auf eigene Faust den Krieg verhindern, indem du mir mit dieser lächerlichen Geschichte von Hellsehen und Hexerei Angst einjagst?“, fragte er schneidend. „Oder was sonst hat dich dazu gebracht, deinen Auftrag als Spionin derart zu verraten? Fürchtest du dich denn nicht, dass dein Herr dich dafür schwer bestrafen wird? – Aber mach dir deshalb keine Sorgen: Ich werde nicht zulassen, dass du in dein Nest zurückflatterst und unsere Strategien verpfeifst. Was auch immer du also im Schilde geführt hast, ob du nun ein Spitzel bist oder nur ein verwirrtes Lumpenweib, hier ist deine Reise zu Ende!“
    Die Worte des Königs waren immer lauter geworden, bis er Reeva den letzten Satz beinahe ins Gesicht brüllte. Die Ader an seinem Hals trat blau hervor, als er Luft holte, um nach den Wachen zu rufen: Spitzel würde er brüllen, Hexenweib vielleicht – doch schon begannen sich seine Augen in den Höhlen zu drehen und sein Kopf fiel zurück. Mit dem ersterbenden Hilfeschrei auf den Lippen sank er in einen tiefen, durch Kräuter erzwungenen Schlaf.
    Reeva stand auf und schritt zur Tür. Draußen nickte sie wieder dem Wächter beruhigend zu: Es sei alles in Ordnung, es gehe ihm gut; er schlafe jetzt. Sie durchquerte zahlreiche Gänge, stieg Treppen hinab und verließ das Schloss – ein Küchenjunge auf dem Weg nach Hause, von niemandem angesprochen, von niemandem beachtet.
    Das Fest war noch in vollem Gange, obgleich bereits fahlgrau der Morgen dämmerte. Jemand hatte sein Reittier an einem Baum festgebunden, um es grasen zu lassen; das Mädchen löste den Strick. Keinen Augenblick lang dachte Reeva daran, mit Jacob zu sprechen und ihn somit ebenfalls in Gefahr zu bringen – sie schwang sich auf den Rücken des Pferdes und galoppierte davon.
     
    ***
     
    Was nützen Tränen, wenn man von den Herrschern zweier Länder gehetzt wird, und wenn man weiß: Königliche Jagden enden nie ohne Beute? Reeva weinte nicht. Sie tat, was das auserwählte Wild stets entgegen jeder Vernunft und Hoffnung versucht, und floh. Wie ein panisches Reh, das mit ungeahnter Schnelligkeit verblüfft, legte sie auf dem Rücken des Pferdes in einigen Tagen Strecken zurück, für die sie mit Jacob zu Fuß Wochen benötigt hatte. Wohin sie wollte, war ihr nicht klar – und doch hatte ein Teil in ihrem Innern den Weg längst vorherbestimmt: in Richtung der einzigen Heimat, die sie je gekannt hatte. Für das Opfer einer Treibjagd gibt es keine Vernunft.
    Was machte es schon, wenn sie einem der Häscher dabei direkt in die Arme lief. Machte es etwas? Schließlich bedeutete ein Gelingen ihrer Flucht möglicherweise nichts anderes als einen neuerlichen Aufschub des Unvermeidbaren: So viele Menschen hatten es schon erkannt, weshalb wurde es ihr selbst erst in diesem Moment bewusst? Irgendwann würde ein Scheiterhaufen für sie errichtet werden, und er würde auf sie warten. War es das, worauf ihr Leben immer zugesteuert hatte?
    Als sie längst die Grenze überquert hatte, ließ sie in dem aussichtslosen Versuch, ihre Verfolger zu täuschen, das Pferd davonlaufen und schlug sich weiter zu Fuß durch. Dabei mied sie die offene Landstraße und wanderte stattdessen im Schutz des Waldes dahin. Nachts schlief sie unter einem Strauch oder den tief herabhängenden Zweigen eines Baumes,
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