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Das Maedchen am Klavier

Das Maedchen am Klavier

Titel: Das Maedchen am Klavier
Autoren: Rosemarie Marschner
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sie eine »verkommene Tochter«.
    Die Bemerkung traf sie tiefer, als sie im ersten Augenblickdachte. Bei dem Konzert, das darauf folgte, ließ sie – zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben – ihr Gedächtnis im Stich. Sie hatte vorgehabt, Felix Mendelssohns »Capriccio« zu spielen, doch dann sah sie vorne in der ersten Reihe den Mann von vorhin, der sie durchdringend anstarrte. Eine lange Zeit hielt sie seinem Blick stand. Doch er gab nicht nach. Es war, als wolle er die junge Frau, die sich gegen seine gefestigte Welt aufgelehnt hatte, mit der Kraft seines Willens in die Schranken weisen.
    Clara merkte, wie ihre Kraft nachließ. Noch wusste sie genau, welches Musikstück auf ihrem Programm stand. Doch die Musik selbst fiel ihr plötzlich nicht mehr ein. Auch auf mitgebrachte Noten konnte sie nicht zurückgreifen. Sämtliche Unterlagen ihres Repertoires lagen im Hotel in Berlin.
    Bisher hatte sich Clara immer darauf verlassen können, dass ihr Gedächtnis getreu alles bereithielt, was es sich einmal eingeprägt hatte. Nun aber spürte sie mit Entsetzen nichts als eine unfassbare Leere und eine Angst vor dem Publikum, die sie bisher noch nie empfunden hatte.
    Die Zuhörer wurden unruhig und reckten die Hälse. Noch immer wartete Clara, dass ihre Blockade sich löste. Dann aber ergab sie sich in ihr Schicksal. Wie in Demut beugte sie sich über ihr Instrument und fing an zu spielen. Leise, so leise, dass man es anfangs kaum vernahm.
    Wie oft hatte sie als Kind am Klavier fantasiert und ihre Zuhörer damit gefangen genommen! Auch heute spielte sie einfach nur vor sich hin, für sich selbst und für jeden, der ihr folgen wollte. Ihren ganzen Kummer spielte sie sich von der Seele. Wer zu hören verstand, musste ahnen, wie es in ihr aussah. Keine lauten Töne, keine wilden Passagen, für die sie so berühmt war. Eher ein stilles Weinen um ihre Kindheit, die durch den Streit mit dem Vater auf einmal entwertet schien, und um ihre Jugend, die vorüberzog und ihr vorenthielt, was sie sich wünschte. Als Entschädigung für die vergessene Komposition öffnete sie den Zuhörern ihre Seele
    Das Publikum in dem engen, schmucklosen Theatersaal starrtezu ihr hinauf. Noch nie hatte sich ein bedeutender Künstler hierher verirrt. Aber so wie heute war es dann wohl, dachten alle. So war es, das ganz Besondere. Das Große. Tiefe. Der Schmerz und die Sehnsucht nach Erlösung und Freude. Indem Clara ihre Seele darbot, ergriff sie die Seelen derer, die ihr lauschten.
    Clara hatte den Sinn für Zeit verloren. Es mochte jetzt genug sein, dachte sie schließlich. Sie richtete sich auf und hob ihre Hände langsam von den Tasten. Ihr Blick wanderte hinunter in die erste Reihe. Doch der Platz, nach dem sie gesucht hatte, war leer.
    Sie stand auf und verneigte sich. Erst jetzt löste sich langsam der Zauber, in den sie ihre Zuhörer versetzt hatte. Ein erstes, vorsichtiges Klatschen ließ sich vernehmen. Dann stimmten nach und nach auch die anderen ein. Es klang wie ein sanfter Regen. Keine Bravorufe und keine Bitten um eine Zugabe. Auch keine Sträuße, die auf die Bühne geworfen wurden. Aufmerksamkeiten dieser Art waren hier nicht üblich.
    Noch einmal verneigte sie sich. Dann ging sie hinaus, ohne sich ein weiteres Mal zu zeigen. Hinter der Bühne wartete der Theaterdirektor und griff nach ihrer Hand. Doch ehe er etwas sagen konnte, hatte sich Clara schon wieder befreit und verschwand in der Garderobe. Erst vor dem Spiegel bemerkte sie, dass ihre Wangen nass waren von Tränen.
    Am nächsten Morgen fuhr Clara zurück nach Berlin, ohne ihre kleine Tournee fortzusetzen. Sie wollte nicht mehr von einem Städtchen ins nächste ziehen, nur um Geld einzusammeln für eine eheliche Wohnung, die man ihr noch nicht einmal rechtlich zugestanden hatte. Sie wollte sich nicht verkaufen für ein paar Teller und einen Kleiderschrank. Erst jetzt begriff sie, dass Robert Schumann die Wahrheit gesprochen hatte, als er sagte, die sogenannte Aussteuer interessiere ihn nicht einmal am Rande.
    Damals war ihr seine Bemerkung weltfremd vorgekommen und hoffnungslos naiv, wie Friedrich Wieck es vielleicht genannt hätte. Nun aber verstand sie, dass nicht nur ihr Vater recht hatte, dem Sicherheit über alles ging, sondern dass auch Robert SchumannsStandpunkt für sie galt. Konzerte geben: ja. Geld damit verdienen: ja. Aber nicht: sich selbst auslaugen, sich auffressen lassen von einem Moloch mit Hunderten Augen und Ohren. »Ihr dürft mein Bestes verlangen, meine
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