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Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)

Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
Autoren: Claire Bouvier
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Erwachsenen wussten!
    »Und was ist heute los?«, fragte ich nach.
    »Heute wird das Kind geboren.«
    »Aus Mamas Bauch?«
    Peter nickte, dann zog er mich unter unseren Fliederbusch, unter dem ich mir im vergangenen Jahr beinahe den Tod geholt hatte. Dort, wo die Triebe aus einer Laune der Natur zu einem Bogen wuchsen, nahmen wir Platz und blickten hinüber zum Haus. Hin und wieder huschte eine der Frauen an den Fenstern vorbei; das, was im Haus gesprochen wurde, war allerdings zu leise, um es verstehen zu können.
    »Können wir denn nicht hingehen und es uns ansehen?«
    Peter schüttelte den Kopf. »Nein, Mariechen, der Vater hat es verboten.«
    »Aber warum?« Wütend schlug ich die Hände auf meinen Rock.
    »Weil die Mama sonst denkt, dass sie sich um uns kümmern muss. Darüber vergisst sie vielleicht, das Kind zu bekommen.«
    Diese Erklärung erschien mir damals schon nicht glaubhaft, auch wenn ich nichts von den Vorgängen bei einer Geburt wusste. Um mich abzulenken, zog Peter ein paar Murmeln aus seiner Hosentasche und spielte mit mir. Im Haus tat sich derweil so einiges, doch das blieb unseren Blicken verborgen. Ermüdet vom Spielen kuschelten wir uns schließlich aneinander.
    »Wie wird das neue Kind wohl sein?«, fragte ich, während mich Peters Wärme schützend einhüllte. Bienen summten über unsere Köpfe hinweg, hin und wieder erblickten wir eine Hummel. In den nahen Lindenbäumen sang eine Amsel.
    »Keine Ahnung«, antwortete Peter nach kurzem Überlegen. »Ich wusste ja auch nicht, wie du wirst. Du hättest auch blöd werden können.«
    »Aber das bin ich nicht, oder?«
    Ein Schrei übertönte Peters Antwort. Er kam aus dem Haus und ließ uns beide in die Höhe fahren. Dass die Äste des Fliederbusches über meinen rechten Arm schrammten, merkte ich kaum.
    »Was war das?«, fragte ich, mich an Peters Wolljacke klammernd.
    »Das muss so«, antwortete er, obwohl er ebenfalls aufgesprungen war, als hätte ihn eine Hummel gestochen. »Frauen schreien, wenn sie Kinder bekommen.«
    »Hat Mama das bei mir auch gemacht?«
    Peter nickte. »Ja, das hat sich genauso angehört.«
    Während meine Mutter erneut herzzerreißend aufschrie, drückte er mich an sich und küsste meine Stirn. »Alles gut, Mariechen, es hört gleich auf.« Damit hatte er aber nur teilweise recht, denn kurz nachdem es still geworden war, flammten die Schreie wieder auf. Noch nie hatte ich mich so sehr gefürchtet!
    Irgendwann wurde es dann still. Während ich keine Besorgnis fühlte, wirkte Peters Miene plötzlich angespannt, und sein Blick klebte am Haus, als könnte er durch die Mauern betrachten, was vor sich ging.
    »Es schreit nicht«, murmelte er dann.
    »Was soll schreien?«, fragte ich, die Hände fest um seinen Arm gekrallt.
    »Das Kind. Es schreit nicht. Eigentlich sollte es schreien.«
    »Vielleicht hat es keine Lust dazu.« Ich wusste keinen Grund, aus dem ein neuer Mensch schreien sollte. Die Welt ringsherum war doch wunderschön.
    »So was gibt es nicht«, behauptete mein kluger Bruder, der schon bald die Dorfschule besuchen würde. »Kinder schreien immer, wenn sie geboren wurden. Du hast wie am Spieß geschrien.«
    »Woher willst du wissen, dass sie immer schreien?«, fragte ich zurück. »Du hast doch nur mich als deine Schwester. Vielleicht schreien Jungs nicht, wenn sie geboren sind. Du weinst ja auch fast nie.«
    Peter antwortete nichts darauf, was ich als Zustimmung wertete. Nachdem wir weitere Augenblicke schweigend unter dem Busch verharrt hatten, näherten sich Schritte unserem Versteck. War Luise geschickt worden, um uns zu holen?
    Als der Lutherrock unseres Vaters vor uns erschien, schnürte sich in meinem Innern etwas zusammen.
    »Was ist mit Mama?«, fragte ich, als sein strenger Blick auf mich fiel.
    »Mama geht es gut«, sagte er wie versteinert. »Euer Bruder ist jedoch von Gott zu sich in den Himmel geholt worden.«
    Ich blickte zu Peter, der Vater wie versteinert ansah. Sagen konnte auch er nichts.
    »Ich habe ihn getauft, und er wird noch heute Abend begraben. Geht am besten wieder ins Haus.«
    Als wir uns erhoben und zur Haustür liefen, fragte ich mich, ob ich weinen sollte oder nicht. Natürlich hatte ich mich auf meinen Bruder gefreut, doch ich empfand – nichts. Keine Traurigkeit, wie sie vielleicht angebracht gewesen wäre. Peter hingegen wirkte sehr traurig. Trauriger jedenfalls als unser Vater, der sich wie immer beherrscht gab. Gott hatte ihm seinen erhofften Spielkameraden weggenommen.
    Auf
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