Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)

Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)

Titel: Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
Autoren: Lynne Wilding
Vom Netzwerk:
bohrte. Ihr Fuß löste sich vom Pedal, als der unheimliche Laut ihre Konzentration durchbrach und sie von ihrer Aufgabe ablenkte.
    Stirnrunzelnd saß sie still wie eine Statue im Licht der starken Neonlampe. Das Geräusch war ihr nicht unbekannt, sie hatte es schon oft zuvor gehört – eigentlich so lange sie denken konnte. Es erklang immer, wenn der Wind aus Süden blies und sich ein Sturm ankündigte. Auch daran erinnerte sie sich. Ihre Mutter – Gott hab sie selig – hatte ihr, als sie noch klein war, erklärt, dass das Geräusch auftrat, wenn der Wind um die Felsen der Cresswell Bay fegte. Eine logische Erklärung, musste Nan zugeben, aber dennoch kratzte das schrille Pfeifen an ihren Nerven. Das war auch schon immer so gewesen.
    Ein weiterer Windstoß ließ die alte Wand erzittern, dass die Holzbalken an den Ecken knackten und das dünne Dach klapperte. Dann wurde das Kreischen innerhalb weniger Sekunden plötzlich schwächer und verstummte schließlich völlig.
    Nan legte den Kopf schief, während sie einen Moment lang nachdachte. Vielleicht würde ihr Bruder Marcus eines Tages die Ursache für dieses nervtötende Geräusch finden. Zweimal hatte er es schon versucht, doch das schlechte Wetter hatte ihn jedes Mal daran gehindert, ganz so, als ob die Natur versuchte, ihr Geheimnis für ewig zu bewahren. Bald würde er hier sein, wenn das Semester an der Universität von Auckland zu Ende war. Wieder legte ein Lächeln ihre Wangen in Falten. Sie freute sich auf das Wiedersehen.
    Langsam entspannten sich ihre Finger. Sie tauchte ihre Hände in die Schüssel Wasser auf dem Seitentisch neben der Drehscheibe und presste ihren Fuß erneut auf das Pedal. Die Töpferscheibe begann sich zu drehen, zuerst langsam, dann immer schneller, als das Pedal, das es antrieb, sich zunehmend schneller hob und senkte. Die Finger bearbeiteten den Lehm liebevoll, nach außen und oben, außen und oben, glättend, formend, schaffend … Das unnatürliche Kreischen des Windes wurde ganz weit hinten in ihrem Gedächtnis gespeichert, als sie sich wieder hingebungsvoll ihrer Aufgabe widmete.

1
     
    in spitzer Finger mit gefeiltem und poliertem Nagel drückte auf den Etagen-Knopf des Aufzugs. Sechs. Sie sah auf die Uhr. Fünfundzwanzig Minuten nach acht am Morgen. Da sie sich allein im Aufzug befand, konnte sie überprüfen, ob ihre graue Kostümjacke richtig zugeknöpft war, der Rock exakt saß und jede einzelne Strähne des kastanienbraunen Haars anständig lag und nicht wie so oft störrische Locken aus dem glatten Knoten rutschten. Während sie zum sechsten Stock emporschwebte, arbeitete sie an ihrem Gesichtsausdruck. Ruhig. Gelassen. Akzeptierend. Ja, ganz besonders Letzteres. Als sich die Tür öffnete, holte sie tief Luft, fasste die Aktentasche fester und ging zuversichtlich durch das Foyer zur Rezeption von Greiner, Lowe und Pearce.
    »Jessica!« Faith Wollinskis Gesichtsausdruck verriet Überraschung, als sie ihre Chefin erkannte. »Ich habe … wir haben Sie heute nicht erwartet. Ähm … noch nicht.« Sie biss sich verlegen auf ihre frisch bemalten Lippen, unsicher, was sie sagen sollte, außer »Es tut mir leid … Ihr Verlust.« Mit einem Seufzen gestand sie sich ein, dass dieser Satz inadäquat war.
    Jessica Pearce hob die Hand. »Bitte, Faith, ich sehe es Ihrem Gesicht an. Mir geht es gut . Die Familie ist einverstanden. Die beste Medizin für mich ist Arbeit, und zwar jede Menge Arbeit.«
    Sie verzog den Mund zu einer Art Lächeln und versuchte, nonchalant zu wirken, als sie sich an den Tresen lehnte und einen Stapel Akten durchblätterte. »David sagt, davon gäbe es hier reichlich.«
    »Damit haben Sie nicht mal Unrecht«, warf Mandy, die zwanzigjährige Rezeptionistin mit ihrer piepsigen Stimme ein. »Mr. Greiner und Mr. Lowe haben Sie die letzten Wochen wirklich sehr vermisst.«
    »Nun, jetzt muss mich niemand mehr vermissen«, erklärte Jessica energisch. Sie nahm ihre Aktentasche und ging den Korridor zu ihrem Büro entlang. Über die Schul ter hinweg bat sie: »Darf ich Sie um einen Gefallen bitten, Faith? Eine Tasse Kaffee, schwarz … in zehn Minuten, wenn ich die Post durchgegangen bin.«
    »Zwei Stück Zucker«, bestätigte Faith. »Ich habe nicht vergessen, wie Sie Ihren Kaffee trinken.« Sie knirschte mit den Zähnen ob der Belanglosigkeit ihrer Bemerkung und war sich bewusst, mit der peinlichen Situation nicht gut fertig zu werden. Sie bekam Jessicas müdes Lächeln mit, an dem ihre Augen keinen Teil hatten.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher