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Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)

Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)

Titel: Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
Autoren: Lynne Wilding
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Wetter. Ihre Lippen bewegten sich, während sie ein Schlaflied vor sich hin sang, eines von denen, die Damian am liebsten gehabt hatte … »Hush, little baby, don't you cry, Mamma's gonna sing you a lullaby …«
    Mit ruckhaften, automatischen Bewegungen zog sie die Schublade rechts oben an ihrem Schreibtisch auf und nahm eine Schere heraus. In tranceartiger Genauigkeit schnitt sie sich Haarsträhnen ab und drapierte sie als Hommage um Damians Foto herum. In der Schublade entdeckte sie einen Lippenstift, und nach wie vor leise singend und den Blick ganz auf das Foto gerichtet, öffnete sie ihn und begann, ihre Augen und ihren Mund mit großen roten Kreisen zu umfahren. Nachdem sie das zu ihrer Zufriedenheit bewerkstelligt hatte, zog sie die Lippenstiftkreise auch auf ihrer reinen weißen Bluse. Doch das war noch nicht genug. Daher nahm sie die Schere, zog die Bluse aus dem Rock und schnitt Stücke davon ab, die sie ebenfalls vor dem Foto niederlegte. Das Jucken unter ihrer Haut wurde stärker. Sie kratzte und kratzte, bis sich hässliche Schwellungen zeigten.
    »They're changing guards …«, summ, summ, »at Buckingham Palace …«
    Die Sprechanlage am Telefon piepte. Sie ignorierte sie, wischte jedoch mit einer einzigen, zornigen Handbewegung mit ausgestrecktem Arm den Schreibtisch leer. Akten, Telefon, Stifte, Büroklammern fielen zu Boden. Alles, bis nur noch der Tischkalender und Damians Foto übrig blieben.
    Zufällig piekste sie das spitze Ende der Schere in den Unterarm, sodass sie blutete. Augenscheinlich fasziniert davon, wie das Blut über ihre weiße Haut lief, beobachtete sie, wie es einen kleinen Bach auf ihrer Haut bildete. Blut war Leben. Natürlich. Sie kicherte irre, sie wusste es. Jessica starrte Damians Foto an, dann hielt sie den Arm darüber und stach sich erneut in die Haut, sodass die Tropfen auf das Foto fielen. Dann legte sie vorsichtig die Schere weg und wartete. Damians Bildnis erwachte nicht zum Leben, und ihren Lippen entsprang ein dumpfer Klagelaut. Wieder begann sie zu schaukeln, vor und zurück, vor und zurück, immer schneller, immer schneller.
     
    Max Lowe, der Seniorpartner der Kanzlei, erhob sich aus seinem Bürostuhl, schaute auf die Uhr und ging nach draußen auf den Gang. Jessica war nicht zur verabredeten Zeit gekommen, um mit ihm über den Smithers-Fall zu reden, was ihm seltsam vorkam. Normalerweise war sie sehr pünktlich. Er würde nachsehen, was sie aufgehalten hatte …
    Als er ein merkwürdiges Geräusch aus ihrem Büro hörte, runzelte er die Stirn. Hatte sie sich verletzt? Seine Hand ergriff die Klinke und zog die Tür auf.
    Als erfahrenen Anwalt in den Fünfzigern konnte Max so schnell nichts schockieren, doch beim Anblick seiner Juniorpartnerin blieb ihm der Mund offen stehen. Jessica sah aus wie eine Verrückte. Ihr kastanienbraunes Haar stand in wirren Büscheln vom Kopf ab – sie hatte gnadenlos daran herumgeschnitten. Auf ihrem Gesicht waren rote Flecken, ihre Bluse an mehreren Stellen zerrissen. Und, fast erst nachträglich, bemerkte er die grässliche Schweinerei auf und um ihren Schreibtisch.
    Doch was ihm noch mehr als das bis ins Mark fuhr, war ihr starrer Blick, die Abwesenheit in ihren Augen. Mein Gott, sie hat den Verstand verloren!
    Max zog sich von der offenen Tür zurück, wandte den Kopf und erhaschte einen Blick auf Mandy, die Rezeptionistin, die durch das Foyer ging. »Mandy!«, kläffte er. »Holen Sie Faith! Schnell!«
     

2
     
    m Fuß des Bettes im Licht der Wandlampe über dem Bett der Patientin stand ein Mann. Er war groß, trug einen maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug, ein weißes Hemd, eine dezent gemusterte Krawatte und italienische Schuhe und wirkte wie ein Mann, der einen gewissen Grad von Macht und Respekt gewohnt war.
    Mit geübtem Blick betrachtete er die Patientin. Das Haar war so gut wie möglich gekämmt worden, sodass es nicht allzu schlimm aussah. Dennoch zuckten seine Finger, als er daran dachte, wie dicht und glänzend es war, dass es in einem bestimmten Licht wie poliertes Kupfer schimmern konnte und wie gerne er mit seinen Fingern hindurchfuhr. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass es wieder wachsen würde. Die Reste des Lippenstifts waren entfernt worden, doch die Haut war gerötet und fleckig. Das schlecht sitzende Krankenhausnachthemd verhüllte ihre perfekte Figur, und tief sediert atmete sie ruhig und gleichmäßig. Doch obwohl sie fest schlief, zuckten gelegentlich ihre Glieder, ein Zeichen für ihren
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