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Das Letzte Ritual

Das Letzte Ritual

Titel: Das Letzte Ritual
Autoren: Yrsa Sigurdardottir
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kleine Junge wirkte niedergeschlagen und hilflos. Das Mädchen war nirgends zu sehen.
    Dann schien ein Teil der Familiengeschichte zu fehlen, denn die nächsten Bilder waren mindestens fünf Jahre später aufgenommen. Dieser Abschnitt begann mit einem gestellten Familienfoto, das erste, auf dem Herr Guntlieb zu sehen war. Er sah würdevoll aus und war deutlich älter als seine Frau. Alle hatten sich fein herausgeputzt und ein Baby war hinzugekommen, das im Arm der Mutter lag. Dies war eindeutig die jüngste Tochter des Ehepaars, das einzige Kind, das noch lebte. Das kleine, kranke Mädchen war auch auf dem Bild; sie saß im Rollstuhl fixiert, ihr Kopf war zurückgeworfen und ihr Mund geöffnet. Ihr Unterkiefer hing schlaff zur Seite; sie schien ihn kaum unter Kontrolle zu haben. Das Gleiche galt für ihre Gliedmaßen; ein Arm war angewinkelt und die Hand unnatürlich gekrümmt. Ihre Finger waren verkrampft wie bei einer Klaue. Der andere Arm lag leblos in ihrem Schoß. Hinter dem Rollstuhl stand Harald, schätzungsweise acht Jahre alt. Sein Gesichtsausdruck war ganz anders als bei Dóras Söhnen in diesem Alter. Die Trübsal des kleinen Jungen war ergreifend. Es musste etwas geschehen sein, und Dóra überlegte, ob sich ein so kleines Kind die Krankheit des Schwesterchens derart zu Herzen nehmen konnte. Vielleicht hatte Harald mit psychischen Problemen zu kämpfen, was bei Kindern nicht selten vorkam. Möglicherweise war der Kleine depressiv, weil die Konkurrenz mit den jüngeren Geschwistern um die Aufmerksamkeit der Eltern seine Kräfte überstieg. Falls das so war, wurde auf den nächsten Fotos deutlich, dass die Eltern damit überhaupt nicht umgehen konnten. Auf keinem der Bilder brachten sie dem Kind körperliche Zuneigung entgegen; der Junge hielt sich immer etwas abseits von der Familie, nur einige wenige Male stand sein Bruder neben ihm. Es war, als habe seine Mutter ihn einfach vergessen oder wolle ihn absichtlich ausgrenzen. Dóra ermahnte sich, nicht zu viel in die Fotos hineinzuinterpretieren. Sie waren lediglich Momentaufnahmen aus dem Leben dieser Menschen.
    Es klopfte an der Tür und Bragi, der Miteigentümer und Gründer der Kanzlei, spähte herein. »Hast du zwei Minuten Zeit?«
    Dóra nickte und Bragi trat ein. Er war fast sechzig und von großer, kräftiger Statur. Er war nicht nur hoch gewachsen, sondern sein ganzer Körper war massig. Dóra beschrieb ihn immer als insgesamt zwei Nummern zu groß, inklusive Finger, Ohren und Nase. Er ließ sich in den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs fallen und zog die Mappe, die Dóra gerade durchsah, zu sich herüber. »Wie war’s?«
    »Die Besprechung? Ganz gut, glaube ich«, antwortete Dóra und beobachtete, wie Bragi lässig durch die Fotos blätterte, die sie gerade angeschaut hatte.
    »Dieser Junge sieht ja furchtbar deprimiert aus«, kommentierte Bragi und tippte auf ein Foto von Harald. »Ist das etwa der Ermordete?«
    »Ja«, entgegnete Dóra. »Ziemlich merkwürdige Fotos.«
    »Nicht unbedingt. Du solltest mal Fotos aus meiner Kindheit sehen. Ich war ein trauriges Kind. Unglücklich und mit einem Wort: hoffnungslos.«
    Dóra nahm ihn nicht ernst. Sie war alle möglichen Kuriositäten von Bragi gewöhnt. Das war bestimmt wieder eine Übertreibung, genau wie die Geschichte, dass er angeblich während seines Jurastudiums jede Nacht im Hafen und an den Wochenenden tagsüber auf Fischfangbooten gearbeitet hatte. Trotzdem kam sie gut mit ihm aus. Er war ihr stets wohlgesinnt und als er ihr vor drei Jahren vorgeschlagen hatte, gemeinsam eine Anwaltskanzlei zu eröffnen, hatte sie dankbar angenommen. Sie hatte damals in einer mittelgroßen Kanzlei gearbeitet und war heilfroh gewesen, dort wegzukommen. Sie vermisste es überhaupt nicht, an der Kaffeemaschine Gesprächen über Lachsangeln und Krawatten zu lauschen.
    Bragi schob die Mappe wieder zu Dóra. »Wirst du den Fall übernehmen?«
    »Ja, ich denke schon«, war die Antwort. »Ist doch mal was anderes.«
    Bragi stand auf, ging zur Tür, drehte sich im Türrahmen noch einmal um und fügte hinzu: »Wie sieht’s denn aus, kann þór dir vielleicht bei der Sache behilflich sein?« þór war ein frisch graduierter Jurist, der erst seit gut einem halben Jahr für die Kanzlei arbeitete. Er war etwas sonderbar und nicht sehr gesellig, aber seine Arbeit war absolut vorbildlich, weshalb nichts dagegen sprach, dass er Dóra bei Bedarf zur Seite stünde. »Ich hab auch schon daran gedacht. Er könnte
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