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Das letzte Revier

Das letzte Revier

Titel: Das letzte Revier
Autoren: Patricia Cornwell
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gewesen, wenn zumindest der eine oder andere von euch mein Haus im Auge behalten hätte. Da du ja Sorge hattest, dass er es auf mich abgesehen hat.«
    »Ich hab dich angerufen, erinnerst du dich?« Er greift aus einer anderen Ecke an. »Du hast gesagt, alles sei in Ordnung. Ich habe dir geraten, dich nicht vom Fleck zu rühren, wir hatten das Versteck des Dreckskerls gefunden, wir wussten, dass er sich irgendwo draußen herumtrieb, wahrscheinlich auf der Suche nach einer weiteren Frau, die er zu Tode beißen und schlagen konnte. Und was tust du, Doktor Detective? Du machst die blöde Tür auf, wenn jemand klopft! Um Mitternacht !«
    Ich dachte, es wäre die Polizei. Er behauptete, Polizist zu sein. »Warum?« Marino brüllt jetzt, trommelt mit der Faust auf das Lenkrad wie ein durchgedrehtes Kind. »Hm? Warum? Sag's mir, verdammt noch mal!«
    Wir wussten seit Tagen, wer der Mörder ist, dass es der geistige und physische Freak Chandonne ist. Wir wussten, dass er Franzose ist und wo seine mafiose Familie in Paris lebt. Die Person vor meiner Tür sprach mit nicht mal einer Andeutung von einem Akzent. Polizei.
    Ich habe die Polizei nicht gerufen, sagte ich durch die geschlossene Tür.
    Ma'am, wir hatten einen Anruf, dass sich auf Ihrem Grundstück eine verdächtige Person herumtreibt. Ist alles in Ordnung? Er hatte keinen Akzent. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er akzentfrei sprechen kann. Das war mir nie i n den Sinn gekommen, nie. Und müsste ich letzte Nacht noch einmal erleben, würde es mir wieder nicht in den Sinn kommen. Die Polizei war gerade da gewesen, weil die Alarmanlage losgegangen war. Es erschien mir überhaupt nicht merkwürdig, dass die Beamten noch einmal vorbeischauen würden. Ich nahm fälschlicherweise an, dass sie mein Grundstück beobachteten. Es ging alles so schnell. Ich öffnete die Tür, vor dem Haus brannte kein Licht, und ich roch diesen schmutzigen, nassen Tiergeruch in der tiefen eiskalten Nacht.
    »He! Jemand zu Hause?«, schreit Marino und stößt mich an der Schulter.
    »Rühr mich nicht an!« Erschrocken komme ich wieder zu mir, schnappe nach Luft und weiche ruckartig vor ihm zurück. Der Wagen schlingert. Das folgende Schweigen lastet so schwer auf uns wie hundert Kubikmeter Wasser, und schreckliche Bilder schwimmen in meine schwärzesten Gedanken. Die vergessene Aschenspitze ist so lang, dass ich nicht mehr rechtzeitig zum Aschenbecher komme. Sie fällt mir auf den Schoß. Ich wische sie weg.
    »Du kannst am Stonypoint Shopping Center abbiegen, wenn du willst«, sage ich zu Marino. »Dann sind wir schneller da.«

2
     
    Dr. Anna Zenners imposantes Haus im Greek-Revival-Stil ragt hell erleuchtet am südlichen Ufer des James River in die Nacht auf. Ihr Herrenhaus, wie es die Nachbarn nennen, hat große korinthische Säulen und ist ein Paradebeispiel für Thomas Jeffersons und George Washingtons Streben, die Architektur der neuen Welt die Größe und Würde der alten ausstrahlen zu lassen. Anna stammt aus der alten Welt, sie ist Deutsche. Ich glaube zumindest, dass sie aus Deutschland ist. Jetzt, da ich darüber nachdenke, kann ich mich nicht erinnern, dass sie mir je erzählt hat, wo sie geboren wurde.
    Weiße Lichter funkeln in den Bäumen, in den vielen Fenstern brennen Kerzen und erinnern mich an Weihnachten in Miami während der späten fünfziger Jahre, als ich noch ein Kind war. Wenn die Leukämie meines Vaters vorübergehend abklang, was selten der Fall war, fuhr er mit uns durch Coral Gables, um uns die Häuser, die er Villen nannte, zu zeigen, als ob er dadurch zu einem Mitglied dieser Welt würde. Ich erinnere mich, dass ich mir die privilegierten Menschen vorstellte, die in diesen eleganten Häusern wohnten, Bentleys fuhren und jeden Tag in der Woche Steaks oder Garnelen aßen. Niemand, der so lebte, konnte arm sein oder krank oder als Abschaum gelten in den Augen von Leuten, die weder Italiener noch Katholiken oder Immigranten namens Scarpetta mochten.
    Es ist der ungewöhnliche Name einer Familie, über die ich nicht viel weiß. Die Scarpettas leben seit zwei Generationen in diesem Land, behauptet zumindest meine Mutter, aber ich weiß nicht, wer diese Scarpettas sind. Ich bin ihnen nie begegnet. Angeblich stammt meine Familie aus Verona, und meine Vorfahren waren Bauern und Eisenbahnarbeiter. Mit Sicherheit weiß ich, dass ich nur eine jüngere Schwester namens Doroth y habe. Sie war einmal kurz mit einem Brasilianer verheiratet, der doppelt so alt war wie sie und
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