Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen

Titel: Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen
Autoren: Peter S. Beagle
Vom Netzwerk:
Raum, in einer anderen Dimension. Deshalb ist sie normalerweise unsichtbar; aber in unsere Welt gezerrt – genau so, wie Thor sie damals erwischt hat –, zeigt sie sich deutlich wie ein Blitz, der ja auch aus einer Welt kommt, in welcher er ganz anders aussieht. Und selbstverständlich könnte sie sehr ungemütlich werden, wenn sie einmal herausfindet, dass ein Stück von ihrem Hängebauch tagein, tagaus in Mammy Fortunas Mitternachtsmenagerie ausgestellt wird. Zum Glück weiß sie’s nicht, sie hat auch andere Sorgen als drüber nachzudenken, was mit ihrem Nabel wird. Und wir riskieren einiges – genau so wie unsere Zuschauer –, wenn wir auf ihr seelisches Gleichgewicht vertrauen und auf ihren Quietismus.« Das letzte Wort knetete und dehnte er, als wäre es Teig. Die Zuschauer lachten beflissen.
    »Sinnestäuschungen«, sagte das Einhorn. »Sie könnte nicht einmal einen Grashalm erschaffen.«
    »Nicht einmal Verwandlungen beherrscht sie«, fügte der Zauberer hinzu. »Sie kann den Dingen ein anderes Aussehen geben, das ist auch schon alles. Und selbst diese Kosmetikerkünste wären zu schwer für sie, wenn diese Dummköpfe und Narren nicht so versessen drauf wären, immer das zu glauben, was ihnen am leichtesten fällt. Die Alte kann nicht mal aus einem Ei ein Omelett machen, aber sie kann einem Löwen den Anschein eines Martichoras geben – aber nur in den Augen von Tölpeln und Toren, die dort einen Martichoras sehen wollen, Augen, die einen richtigen Martichoras für einen Löwen halten, einen Drachen für eine Eidechse und die Midgardschlange für ein Erdbeben. Und ein Einhorn für eine weiße Stute.«
    Dem Einhorn wurde in diesem Augenblick bewusst, dass der Zauberer seine Worte verstanden hatte, und es trottete nicht mehr müde und hoffnungslos durch den Käfig. Er lächelte, und das Einhorn bemerkte, dass sein Gesicht für einen Erwachsenen erschreckend jung war; die Zeit hatte darin keine Spuren hinterlassen, Leid und Weisheit waren ferngeblieben. »Ich erkenne dich«, sagte er.
    Die Eisenstangen wisperten aufgeregt miteinander. Rukh führte die Besucher zu den inneren Käfigen. Das Einhorn fragte den hageren Mann: »Wer bist du?«
    »Man nennt mich Schmendrick den Zauberer«, antwortete er. »Du wirst noch nicht von mir gehört haben.«
    Das Einhorn hätte ihm beinahe erklärt, dass es sich nicht im Geringsten für die Namen von Taschenspielern und Bauernfängern interessiere, aber etwas Trauriges und Tapferes in seiner Stimme hielt es davon ab. Der Zauberer sagte: »Ich unterhalte die Besucher, während sie auf den Beginn der Führung warten. Tricks und Taschenspielerei, Blumen in Fahnen und Fahnen in Fische, dazu eine Menge Geschwätz und vor allem die Andeutung, dass ich wirkliche Wunder vollbringen könnte, wenn ich nur wollte. Kein besonders guter Job, aber ich habe schon schlechtere gehabt und werde eines Tages einen besseren haben. Es ist noch nicht aller Tage Abend.«
    Seine Stimme klang so, dass sich das Einhorn für immer und ewig eingeschlossen fühlte, und es lief wieder ruhelos hin und her; ohne diese Bewegung wäre ihm vor Entsetzen über das Gefangensein das Herz zersprungen. Rukh stand vor einem Käfig, der nichts als eine kleine braune Spinne enthielt, die zwischen den Gittern ein bescheidenes Netz spann. »Arachne von Lydien!«, verkündete Rukh. »Garantiert der Welt größte Weberin – ihr Schicksal ist der Beweis dafür. Sie hatte das Pech, die Göttin Athene in einem Webwettbewerb zu besiegen. Athene war eine schlechte Verliererin, und Arachne ist jetzt eine Spinne. Gibt in Mammy Fortunas Mitternachtsmenagerie ihr erstes und einziges Gastspiel. Kette aus Schnee und Schuss aus Feuer, jeder Knoten wird ein neuer. Arachne!«
    Auf dem Webstuhl aus eisernen Stangen spannte sich ein sehr einfaches und beinahe farbloses Netz, das nur ab und zu regenbogenfarben aufblitzte, wenn die Spinne hinauseilte, um einen Faden zurechtzurücken. Aber das Netz zog die Augen der Betrachter – auch die des Einhorns – hin und her und immer tiefer, bis sie in bodenlose Abgründe zu blicken schienen, in schwarze Klüfte, die aufbrachen und sich unaufhörlich weiteten, bis nur noch Arachnes Faden die Welt vor dem Auseinanderbrechen bewahrte. Das Einhorn riss sich mit einem Seufzer von diesem Anblick los – und sah wieder ein Spinnennetz. Es war sehr einfach und beinahe farblos.
    »Sie ist nicht wie die anderen«, sagte es.
    »Nein«, gab Schmendrick widerwillig zu. »Aber das ist bestimmt nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher