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Das Leben Zimmer 18 und du

Das Leben Zimmer 18 und du

Titel: Das Leben Zimmer 18 und du
Autoren: Nancy Salchow
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Geschichten wie diese vermutlich zu genüge, hat viele Schicksale kennen und zu deuten gelernt.
    Sein nüchterner Blick ist es letztendlich auch, der mich beruhigt. Seine Gelassenheit suggeriert mir, selbst Gelassenheit zu empfinden. Schließlich bin ich jetzt hier. Hier, wo mir geholfen wird. Hier, wo man meine Krankheit kennt.
    Er erklärt mir in monotoner Stimme, dass ich in erster Linie hier bin, um auf die Medikamente eingestellt zu werden. Bis zur Wirkung der Antidepressiva wird man mich unter ärztlicher Aufsicht mit Beruhigungsmitteln über Wasser halten, die die Ängste und innere Unruhe verblassen lassen sollen. Danach, sobald ich stabiler bin, werde ich mich für eine geeignete Therapie entscheiden können, die meine Krankheit dauerhaft bekämpfen soll.
    Gut ist, das erfahre ich auch in diesem Gespräch, dass ich mich bereits nach den ersten Panikattacken habe einliefern lassen. Die Krankheit hatte somit also nicht die Zeit, sich noch tiefer in mir zu verwurzeln.
    Wieder wird sie in mir wach, die Hoffnung. Nicht zuletzt wegen der ersten Beruhigungstablette, die man mir bereits bei meiner Ankunft gegeben hat.
    Als ich in mein Zimmer zurückkehre, das glücklicherweise zu dem Zeitpunkt noch ein Einzelzimmer ist, warten Viola und David auf mich. Wir werten das Arztgespräch aus und Viola, die sich bereits mit dem Aufnahmeprozedere auskennt, spricht mir Mut zu.
    Dass ich mich von diesem Moment an auf der geschlossenen Psychiatrie befinde, macht mir nichts aus. Auch später, wenn andere Patienten mir von ihrer Angst berichten, auf der geschlossenen Station untergebracht zu werden, kann ich dieser Station nichts Negatives abgewinnen. Wenn das Leben erst einmal angefangen hat, seinen Sinn zu verlieren und jede Aktion im Freien aufgrund mangelnder Zuversicht ohnehin unmöglich geworden ist, spielt es auch keine Rolle mehr, ob ich auf der geschlossenen oder offenen Station liege. Letztendlich habe ich ohnehin die Möglichkeit im Hinterkopf, mich jederzeit wieder ausweisen zu lassen, da ich freiwillig ins Krankenhaus gekommen bin. Auch wenn ich schon zu diesem Zeitpunkt weiß, dass ich von dieser Option keinen Gebrauch machen werde.
    David und Viola machen sich langsam auf den Weg nach Hause. Ich bleibe mit einem mulmigen Gefühl zurück.
    Das Mittagessen, das auf mein Zimmer gebracht wurde, als ich beim Arztgespräch war, hat keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Alles, woran ich mich erinnere, sind Erbsen. Vermutlich auch das Einzige, was ich davon gegessen habe.
    Abendessen gibt es um kurz vor halb sechs, sagte mir irgendjemand.
    Halb sechs. Seniorenzeit, aber passend zur Situation. Irgendwie.
    Ich starre an die Decke.
    Es ist nachmittags. Wie spät genau, weiß ich nicht.
    Aber bis zum Essen ist noch genügend Zeit, um eine Weile die Augen zu schließen. Endlich kann ich schlafen. Seit Langem. Und ohne dabei zu weinen.

    *

    Das Abendessen schmeckt nicht. Nicht weil es nicht schmeckt, sondern weil es nicht schmeckt . Ein Schicksal, das es seit Tagen mit jeglichen Lebensmitteln teilt. Erst recht, seitdem ich in der Klinik bin.
    Neben mir sitzen zwei junge Frauen, eine von ihnen schätzungsweise Anfang 30 wie ich, die andere wohl etwas jünger. Sie unterhalten sich über Massagen.
    Jennifer, die Frau in meinem Alter, hat ein Händchen für Rücken, erklärt sie. Oder erklärt es die andere Frau, die neben ihr sitzt? Meine Tabletten zeigen bereits am ersten Tag ihr wahres Gesicht, das alle anderen Gesichter in der Erinnerung verschleiert. Handlungsstränge verschwimmen, Gespräche verlieren an Bedeutung oder ganz und gar an Existenz.
    An das Gespräch über die Massage erinnere ich mich jedoch. Und daran, dass wir uns schnell vertraulich unterhalten. Denn diese Krankheit, das wird schnell klar, verbindet. Niemand muss sich hier schämen, niemand muss hier schweigen. Und wenn er es doch tut, dann nur, weil er es noch nicht weiß.
    Ich selbst bin seit Monaten mehr als verspannt. Falsche Haltung bei der Arbeit am Netbook, zu wenig ausgleichende Bewegung. Als Jennifer mir anbietet, mich ebenfalls zu massieren, nehme ich das Angebot mehr als dankbar an.
    Wir gehen auf mein Zimmer. Die andere junge Frau, Carmen, begleitet uns. Von da an reißt der Erinnerungsfaden ab. Wenig später liege ich auf meinem Bett. Jennifer, eine Stunde zuvor noch eine völlig Fremde, hält mich im Arm, während ich geradezu brüllend weine. Wieder Tränen. So viele Tränen. Zu viele, um den Grund für die Tränen noch ausmachen zu
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