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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben
Autoren: Marina Lewycka
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widerlicher Gestank nach altem Fisch. Letzterer, wie mir erschütternd klar wurde, war das Abendessen.
    Die Katzen hatten sich mit mir durch die Tür geschoben - letztendlich waren es doch nur vier - und rannten in den hinteren Teil des Hauses. Mrs. Shapiro klatschte in die Hände, um sie zu verscheuchen, doch sie lächelte nachsichtig. »Kleine Pisskes!«
    Sie trug ein langärmliges Kleid aus karminrotem Samt, tailliert und mit einem gewagten Ausschnitt, der ihre runzligen Schultern und die schlaffe Haut ihres Dekolletes entblößte. An ihrem Hals schimmerte ein doppelter Perlenstrang. Die dramatischen schwarzen Locken hatte sie mit Hilfe einer Sammlung von Perlmuttkämmen hochgesteckt und einen Hauch von passendem karminrotem Lippenstift aufgetragen, der allerdings nicht nur auf ihren Lippen gelandet war. Ich trug Jeans und einen ausgeleierten Pullover unter dem braunen Dufflecoat. Sie trat auf ihren Stöckelschuhen zurück und beäugte mich kritisch.
    »Was tragen Sie für alte Schmatten, Georgine? Das ist aber nicht schmeichelhaft für eine junge Frau. So finden Sie nie einen Mann.«
    »Ich ... äh ... brauche keinen ...« Ich brach ab. Vielleicht war ein Mann genau das, was ich brauchte.
    »Kommen Sie. Ich suche Ihnen etwas Besseres.«
    Sie führte mich durch die große geflieste Eingangshalle, aus deren Mitte sich eine polierte Mahagonitreppe in den ersten Stock wand. Unter der Treppe stapelten sich schwarze Müllsäcke, zum Bersten voll mit - ich wusste nicht mit was, aber durch die aufgeplatzten Nähte konnte ich Bücher und Elektrogeräte und Geschirr und Wäsche sehen. Daneben parkte der alte Kinderwagen mit der hübschen Federung, mittlerweile randvoll mit gebündelten Lumpen, auf denen es sich ein paar getigerte Katzen bequem gemacht hatten. Mrs. Shapiro scheuchte sie fort und begann die Lumpen durchzugehen. Schließlich fand sie einen dunkelgrünen Zipfel, der sich, als sie daran zog, in ein schweres grünes Seidenkleid mit langen ausgestellten Ärmeln verwandelte.
    »Hier«, sie hielt mir das Kleid ans Kinn. »Ich glaube, damit sehen Sie hübscher aus, nich wahr?« Ich warf einen Blick auf das Etikett: Es war 42, meine Größe, und von Karen Millen. Ein tolles Kleid. Wo zum Teufel hatte sie es her?
    »Es ist wunderschön, aber ...« Wenn ich so darüber nachdachte, ahnte ich, wo sie es herhatte - sie musste es aus dem Müll gefischt haben. »... aber das kann ich unmöglich annehmen.«
    Wer warf ein solches Kleid auf den Müll? Dann dachte ich an Rips Sachen, die ich auf den Müll geworfen hatte, und plötzlich verstand ich - irgendwo war noch ein anderes Herz verspritzt.
    »Mir ist es zu groß«, sagte sie. »Und an Ihnen sieht es bestimmt viel besser aus. Bitte, nehmen Sie es.«
    »Vielen Dank, Mrs. Shapiro, aber ...« Ich klopfte die Katzenhaare ab, die an dem seidigen Stoff klebten. Als ich es ausschüttelte, erhaschte ich den schwachen Geruch vom Schweiß und teuren Parfüm seiner früheren Besitzerin, und ich fragte mich, was ihren Liebhaber dazu getrieben hatte, das Kleid zu entsorgen.
    »Probieren Sie es an! Probieren Sie es! Keine falsche Bescheidenheit, Darlink!«
    Erwartete sie, dass ich sofort hineinstieg? Anscheinend ja. Sie überwachte mich dabei, wie ich mich in der übelriechenden kalten Eingangshalle bis auf die Unterhose auszog und mir das Kleid, das noch warm von den schlafenden Katzen war, über den Kopf streifte. Es rutschte über meine Schultern und Hüften wie maßgeschneidert. Warum tat ich so etwas?, fragte ich mich. Warum ließ ich nicht meine eigenen Kleider an und sagte höflich, aber bestimmt gute Nacht? Ich dachte an Flucht, das tat ich wirklich. Aber dann dachte ich an die Mühe, die sie sich wahrscheinlich mit dem Essen gemacht hatte, und wie enttäuscht sie wäre. Und ich dachte an mein leeres Haus und die grellrosa Würstchen im Kühlschrank und die Krankenhausserie im Fernsehen. Und dann war es zu spät.
    »Warten Sie, ich mach den Reißverschluss zu!« Ich fühlte ihre Hände wie knochige Klauen auf meiner Haut, als sie den Reißverschluss hochriss. »Sehr hübsch, Darlink. So sehen Sie gleich viel besser aus. Sie sind eine hübsche Frau, Georgine. Hübsche Haut. Hübsche Augen. Gute Figur. Aber schauen Sie Ihr Haar an. Sieht aus wie ein Schafspopo. Wann waren Sie das letzte Mal beim Friseur?«
    »Ich weiß es nicht mehr. Ich ...« Ich erinnerte mich, wie Rip mich früher angesehen hatte, wie er mir durchs Haar strich, wenn wir uns küssten.
    »Soll ich Ihnen ein
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