Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben ist kurz - Vita brevis

Das Leben ist kurz - Vita brevis

Titel: Das Leben ist kurz - Vita brevis
Autoren: Jostein Gaarder
Vom Netzwerk:
ihrem Namen, Bischof! Du verbirgst uns auch nicht, dass du sehr, sehr leiden musstest und dass du deinen Tränen freien Lauf ließest, sobald du allein warst. Du hast dich zwar ein wenig geschämt, weil du um deine Mutter geweint hast, denn das konnte ja darauf hinweisen, dass du noch immer über irdische Gefühle verfügtest.
    Weißt du noch, wie wir uns einmal über den Übermut 130 der griechischen Helden unterhalten haben? Ich halte es an dieser Stelle für angebracht, dich daran zu erinnern, dass auch du nur ein Mensch bist. 131 Wie lange, Aurel, willst du meine Geduld noch missbrauchen? 132 Wie sehr du dich auch drehst und wendest, auch du hast »irdische Gefühle«, falls du überhaupt Gefühle hast, meine ich, denn was für Gefühle solltest du schon haben, wenn nicht irdische?
    Und dann erhielt ich den zweiten Brief meines Aurel...
    Nachdem du Monika in Ostia begraben hattest 133 , reistest du zusammen mit Adeodatus nach Rom, wo ihr fast ein Jahr verbrachtet. Aber über dieses Jahr lesen wir nichts in deinen Bekenntnissen, gnädiger Bischof. Warum lässt du es unerwähnt? Gibt es vielleicht selbst für deinen Bekenntnisdrang noch eine Grenze?
    Zu gestehen ist wie eine Medizin, wenn wir gefehlt haben, schreibt Cicero. 134 Aber deine wichtigsten Fehler bekennst du nicht! Wie kannst du den letzten Akt der Tragödie einfach ausfallen lassen? Denn was können wir dann aus der Tragödie noch lernen?
    Nach Monikas Tod bist du offenbar plötzlich in einen Zustand des Zweifels und der Leere gestürzt. Du warst nun mit deinem Sohn allein, Monika war nicht mehr, und ich fehlte dir, Aurel, ich fehlte dir. Und ich habe bestimmt auch Adeodatus gefehlt, schließlich hatte er mich seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Aber er hat mich nie mehr wieder gesehen, so, wie ich ihn nie mehr wieder sehen durfte.
    In deinem Brief teiltest du mir mit, dass Monika gestorben war. Ich will dich jetzt nicht belästigen, indem ich alles, was du mir damals geschrieben hast, noch einmal zusammenfasse, aber auf jeden Fall wolltest du mir unbedingt erklären, dass deine Verlobung aufgehoben sei und dass du niemals heiraten wolltest. Aber vielleicht sollte ich dich doch an die letzten Sätze deines Briefes erinnern. Du schreibst: »Wie du mir fehlst, Floria! Ich wünschte, du wärst jetzt mit uns zusammen. Ich will dich sehen, ich will dich sehen und will es auch wieder nicht. Ich will, aber ich kann nicht, und ich kann nicht, aber ich will.«
    Es fällt den Menschen eben manchmal schwer, sich zu entscheiden, und dann ist es doch kein Wunder, dass wir bisweilen den falschen Entschluss fassen. »Ich weiß, was gut für mich wäre, aber ich mache das, was mir schadet«, schreibt Ovid. 135
    Unter diesen Brief durfte Adeodatus einen kurzen Gruß an seine Mutter schreiben. Das war lieb von dir, Aurel, und sehr umsichtig, denn auch Adeodatus hat sich sicher darüber gefreut.
    Ich vermisste dich auch, und ich verstand deinen Brief so, dass du mich gern sehen wolltest. Also reiste ich nach Rom. Ich hatte Glück und fand nur wenige Tage später eine Überfahrt.
    Die ganze Zeit hatte ich immer wieder den einen Satz in den Ohren: Bist du schon einmal in Rom gewesen? Als ich nun zum zweiten Mal dort eintraf, diesmal ganz allein, musste ich mich in den Gemeinden erst nach dir erkundigen. Aber schon wenige Tage später begegneten wir uns oben auf dem Aventin und konnten uns wieder umarmen.
    Dort standen wir dann lange und schauten uns tief in die Augen, so tief, wie das unseren Blicken nur möglich war. Und kamen wir uns dabei nicht vor wie eine einzige lebendige Seele, die sich in sich selber zu spiegeln schien? Und dann hast du etwas gesagt, Aurel, weißt du das noch? Jetzt wirst du immer bei mir bleiben, hast du gesagt.
    Du bist nicht gefallen , als wir dann für einige kurze Wochen unser altes gemeinsames Leben wieder aufgenommen haben. Ich meine, du bist damals zu einem neuen Leben auferstanden, nachdem du im Schattental der Theologen gelebt hattest. Was in diesen Wochen geschah, geht deswegen weder Gott noch die Menschen an. Ich hoffe, dass du deshalb in deinen Büchern nichts über jene Zeit schreibst.
    Weißt du noch, wie wir auf dem Forum stehen blieben und zu dem Schnee hochblickten, der die Kaiserpaläste bedeckte? Ich sagte, »ich friere«, und du zogst mich an dich, so eng, dass ich spürte, wie dein Blut mich wärmte. Ich weiß noch, dass ich mich zu dir umdrehte und sagte, du hättest wohl kein Schamgefühl mehr. Aber ich wollte dasselbe. Wir
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher