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Das Leben ist kurz - Vita brevis

Das Leben ist kurz - Vita brevis

Titel: Das Leben ist kurz - Vita brevis
Autoren: Jostein Gaarder
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Augustinus’ Konkubine. Bestenfalls war hier doch wohl die Rede von irgendeinem bisher unbekannten Brief an den Kirchenvater oder eher von einer Abschrift einer noch älteren Abschrift.
    Nun ja, der Brief konnte natürlich auch irgendwann im 17. oder 18. Jahrhundert in einem Kloster in Lateinamerika geschrieben worden sein. Ich glaubte gehört zu haben, dass in manchen Klöstern durchaus ab und zu vergleichbare Briefe, die angeblich an einen Heiligen gerichtet waren oder sogar von ihm selbst stammen sollten, verfasst worden waren.
    Der Antiquar wollte Feierabend machen, und ich reichte ihm meine VISA-Karte.
    »Zwölftausend Pesos«, sagte ich.
    Das sind fast 25.000 Kronen – für etwas, das vielleicht überhaupt keinen antiquarischen Wert hatte. Aber ich war neugierig, und ich wäre nicht der erste Mensch, der für seine Neugier teuer bezahlen muss. Schon, als ich vor vielen Jahren die »Bekenntnisse« des Augustinus gelesen hatte, hatte ich versucht, mich in diese Konkubine hineinzuversetzen. Auch die Ansichten des Augustinus über die Liebe zwischen Mann und Frau hatten bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen.
    Der Antiquar nahm mein Angebot an. Er sagte:
    »Ich glaube, wir wären gut beraten, wenn wir diesen Handel als eine Art Risikoverteilung betrachteten.«
    Ich schüttelte den Kopf, da ich nicht verstand, was er damit meinte. Und er erklärte:
    »Entweder mache ich ein sehr gutes Geschäft, oder Sie machen ein noch besseres.«
    Er machte einen Abdruck meiner Kreditkarte und sagte mit bekümmertem Gesicht:
    »Ich habe das Manuskript selber noch nicht mal gelesen. In ein paar Tagen hätte der Preis sich entweder vervielfacht, oder ich hätte die Kassette dort hinten in den Korb geworfen.«
    Ich warf einen Blick auf den Korb, auf den er zeigte, er war mit alten Taschenbüchern gefüllt. Auf einem Schild, das aus dem Korb aufragte, stand: »2 Pesos.«
    Ich hatte das bessere Geschäft gemacht. Der »Codex Floriae« wird inzwischen auf das Ende des 16. Jahrhunderts datiert, aller Wahrscheinlichkeit nach ist er in Argentinien aufgeschrieben worden. Die große Frage ist nur, ob wirklich jemals ein altes Pergament existiert hat, dessen Abschrift unsere »Codex Floriae« ist.
    Ich selber zweifele nicht mehr an der Echtheit des Briefes, der also ursprünglich von Augustinus’ langjähriger Lebensgefährtin stammen muss. Ich halte es für nahezu unvorstellbar, dass dieser Text gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Argentinien ersonnen worden ist. Da ist es trotz allem einfacher, sich vorzustellen, dass er wirklich aus der Zeit des Augustinus stammt. Satzbau und Wortwahl der Handschrift sind typisch für die Spätantike, und das gilt ebenfalls für Florias Mischung von Sinnlichkeit und fast verzweifelter religiöser Reflexion.
    Im Herbst 1995 bat ich die Vatikanische Bibliothek in Rom um eine genaue Analyse des Manuskriptes. Allerdings ist mir von dort keinerlei Hilfe zuteil geworden. Ganz im Gegenteil: Im Vatikan wird energisch bestritten, jemals einen »Codex Floriae« erhalten zu haben. Es überrascht mich nicht, obwohl ich nicht ohne weiteres akzeptieren kann, dass Florias Brief der katholischen Kirche gehört.
    Ich hatte das Manuskript vorher natürlich fotokopiert, und im Frühjahr 1996 versuchte ich dann, den Brief ins Norwegische zu übersetzen. Diese Übersetzungsarbeit war ein Puzzlespiel sondergleichen, nicht zuletzt, weil die Handschrift keinerlei Paginierung aufwies. Es war aber auch ungeheuer anregend für mich, bei dieser Gelegenheit meine alten Lateinkenntnisse aufzufrischen – die ich 1968–1971 an der Osloer Kathedralschule erworben hatte. Oft habe ich dabei dankbar an meinen alten Lateinlehrer, Studienrat Oskar Fjeld, gedacht.
    Es ist faszinierend, wie fest alte Konjugationen und Deklinationen im Gedächtnis verankert sein können. Aber ohne die bereitwillige Hilfe Øivind Andersens hätte ich diese Übersetzung doch nicht geschafft. Mein Dank für aufmunternde Worte und gute Ratschläge gilt außerdem Trond Berg Eriksen, Egil Kraggerud, Øivind Norderval und Kari Vogt.
    Nichts könnte mir eine größere Freude machen, als wenn diese Ausgabe des »Codex Floriae« mit neuem Interesse an der lateinischen Sprache und der klassischen Kultur überhaupt belohnt würde.

IX
    J etzt werde ich einiges überspringen, um schneller zu meinem wirklichen Anliegen zu kommen. Außerdem habe ich mein halbes Vermögen für Pergament ausgegeben, und mir bleiben nicht mehr viele Bögen.
    Auf der Rückreise nach Afrika
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