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Das Leben ist kurz - Vita brevis

Das Leben ist kurz - Vita brevis

Titel: Das Leben ist kurz - Vita brevis
Autoren: Jostein Gaarder
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waren zwei Menschen, aber nur ein Wille.
    Wir konnten nicht unter demselben Dach wohnen, denn du wolltest mich nicht mit Adeodatus zusammenbringen, noch nicht jedenfalls, sagtest du. Ich wäre vor Sehnsucht nach ihm fast gestorben. Aber du meintest, es würde eine zu große Enttäuschung für ihn sein, wenn aus irgendeinem Grund doch nichts aus unserer neuen Vereinigung werden sollte. Also mietetest du das Zimmer oben auf dem Aventin, einen Ort, an dem du und ich uns sehen konnten.
    Wie könnten wir diesen Winter vergessen, Aurel? Wieder waren wir mit Venus im Bunde und konnten frei in ihren Armen spielen. Hast du damals nicht gesagt, du kämst dir vor wie ein verdorrter Baum, der sich plötzlich nach langer Zeit wieder aufrichtete, als nach einem langen Sommer der Dürre schließlich doch der Regen einsetzte?
    Ich fasse mich jetzt nicht nur kurz, um dich zu schonen. Eines Nachmittags kehrtest du dich in plötzlichem Zorn gegen mich, nachdem wir wieder einmal die Gaben der Venus miteinander geteilt hatten. Und dann hast du mich geschlagen, weißt du das noch, Aurel? Ausgerechnet du, der einmal ein geachteter Rhetoriklehrer gewesen war, du hast mich halb tot geschlagen, weil du dich von meiner Zärtlichkeit in Versuchung hattest führen lassen. Und ich musste die Schuld für deine Lust auf mich nehmen. Ich habe bereits Horaz zitiert, will es aber gern noch einmal wiederholen: Wenn Dumme einen Fehler vermeiden wollen, dann begehen sie in der Regel den entgegengesetzten!
    Du schlugst und schriest, Bischof, denn nun war ich wieder zu einer Bedrohung deines Seelenheils geworden. Und dann packtest du einen Stock und schlugst noch einmal auf mich ein. Ich dachte, du wolltest mich vielleicht totschlagen, das hätte dir wohl denselben Nutzen gebracht wie deine eigene Entmannung. Ich hatte nicht so sehr Angst um meine eigene Haut, vielmehr war ich wie zerstört, enttäuscht, und ich schämte mich so sehr für meinen Aurel, dass ich wünschte, du würdest meinem Leben ein für alle Mal ein Ende setzen, daran kann ich mich noch klar und deutlich erinnern.
    Plötzlich war ich nichts mehr, du konntest mir einfach um deines Seelenheils willen den Rücken zukehren. Ich war zum blutenden Opferlamm geworden, das gebraucht wurde, damit die Tore des Himmels sich für dich öffneten.
    Und dann weintest du, das werde ich nie vergessen. Du schlugst nicht mehr, aber ich blutete schon aus vielen Wunden. Und du weintest, und du tröstetest, und du batest mich um Verzeihung. Alles sei so anders, jetzt, ohne Monika, war deine Erklärung.
    Du faltetest die Hände und flehtest bald mich, bald deinen Gott um Vergebung an. Du holtest Stoffstreifen, um meine Wunden zu verbinden. Ich selber war nur kalt und verängstigt. Kalt, weil ich noch immer blutete, verängstigt durch den Blick ins Gesicht einer Bosheit, die ich vorher nicht einmal geahnt hatte.
    Etwas ganz Neues schien nun begonnen zu haben, eine neue Zeit. Die alte Zeit, als wir zusammen über die Arnobrücke gegangen waren, hatte geendet. Darauf waren einige Jahre voller Verwirrung und Zweifel gefolgt. Und dann brach die neue Zeit an, als du plötzlich auf mich einschlugst. Ich hatte nur einen Gedanken: ausgerechnet du, Aurel, ausgerechnet du!
    Dann hast du mich nach Hause geschickt, nach Karthago. Und ich hörte erst zwei Jahre später wieder von dir, nachdem Adeodatus gestorben war.

Noch immer habe ich viele Fragen. Hat Floria ihren Brief an Aurel abgeschickt? Oder hat sie das dann am Ende doch nicht gewagt? Im Brief wird das ja an einer Stelle angedeutet. Sie schreibt, dass sie sich davor fürchtet, was die Kirchenmänner eines Tages mit einer Frau wie ihr machen werden.
    Aus einigen Fußnoten geht jedoch hervor, dass ich im Grunde doch davon ausgehe, dass der Bischof von Hippo Regius diesen Brief erhalten hat. Die Möglichkeit besteht, dass der Brief im Lauf der Geschichte der katholischen Kirche eher ein Leben im Verborgenen geführt hat. Selbst wenn er vielleicht in mehreren Abschriften überliefert war, müssen ihn deshalb nicht viele Menschen gekannt haben. Das ursprüngliche Pergament kann natürlich auch – ob absichtlich oder nicht – vollständig in Vergessenheit geraten sein, bis es im 16. Jahrhundert durch einen Zufall wieder entdeckt wurde. Aber was geschah dann?
    Vielleicht wurde mein Exemplar des »Codex Floriae« in einer Klosterbibliothek aufbewahrt, bis es aufgefunden und an den Besitzer des kleinen Antiquariats in Buenos Aires verkauft wurde. Der Antiquar hat gesagt,
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