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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels
Autoren: David Whitley
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beschlagene Eingangstür aufstießen.
    Was sie nicht erwartet hatten, war völlige Ruhe.
    Verblüfft schaute Mark sich um. Die Gebäude um sie herum zeichneten sich als Silhouette im verblassenden Sonnenlicht des frühen Abends ab. Das war nach den letzten Tagen eine willkommene Rückkehr zur Normalität. Zwar waren die meisten Häuser immer noch verriegelt und verrammelt, doch war hier und da eine Tür aufgestoßen worden und schlug in der Brise knarrend auf und zu. Zu dieser Tageszeit wäre sonst selbst in den ruhigsten Stadtteilen ein steter Fluss von Menschen auf dem Nachhauseweg gewesen. Diese Leere wirkte gespenstisch.
    Sie gingen die kopfsteingepflasterten Straßen entlang. Lily machte sich darauf gefasst, auf eine Eintreiberstreife zu stoßen, die ihnen nachsetzen würde. Aber das einzige Geräusch war ein weit entferntes Grollen, das klang wie das gegen die Klippen vor der Kathedrale der Verlorenen brausende Meer.
    Sie blieb stehen. »Mark«, flüsterte sie, »hörst du das? Was ist das?«
    Mark neigte den Kopf zur Seite. »Ich glaube …«, sagte er, »ist das nicht … Rufen?«
    Lily ließ den Kopf hängen. Noch einer aufgebrachten Menschenmenge wäre sie nicht gewachsen. Wahrscheinlich näherte sich die Menge ohnehin schon, um sie beide aufzugreifen und durch das einstmals stolze Agora zu zerren. Das war nun also das Ergebnis ihres Versuchs, aus der Stadt einen besseren Ort zu machen.
    »Nein …«, fuhr Mark dann vorsichtig fort. »Es ist … Jubel …« Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Ich glaube, er kommt vom großen Marktplatz! Komm schon!«
    Ihren Schmerzen und Prellungen zum Trotz rannten die beiden durch die Straßen von Agora.
    Je näher sie dem großen Marktplatz kamen, desto lauter wurde der Lärm. Nun war es leichter, einzelne Stimmen aus dem Tohuwabohu herauszuhören – es wurden Parolen skandiert, ja sogar Lieder gesungen. Lily war überzeugt davon, die Sozinhos zu vernehmen; diese sangen das gleiche Lied des Ruhms, das sie drei Jahre zuvor gehört hatte – am Tag des Großen Festes, dem Tag, an dem Mark und sie den Weg eingeschlagen hatten, der sie hierhergeführt hatte.
    Genau vor drei Jahren. Heute war auch Agora-Tag, ihr Geburtstag. Bei diesem Gedanken blieb sie abrupt stehen.
    »Worauf wartest du?«, fragte Mark aufgeregt. »Willst du denn nicht wissen, was geschehen ist?«
    Lily zögerte. »Meinst du nicht, es gibt einen Weg, wie wir es herausfinden können, ohne dorthin zu gehen? Es könnte sich auch um eine Feier des Direktoriums handeln, nachdem die Rebellen geschlagen wurden.«
    Mark wurde ein wenig blasser. An so etwas hatte er gar nicht gedacht. Dann aber lächelte er plötzlich.
    »Also, da gibt es vielleicht einen Platz, von dem aus wir eine bessere Aussicht haben …«
    Es war ein außerordentlich beeindruckender Anblick. Der Marktplatz platzte aus allen Nähten. Die Menschenmenge stand auf den Brücken, in den Torbögen und in den dahinter liegenden Straßen. Die Überreste der Barrikaden trieben den Fluss hinab oder waren niedergetrampelt worden. So viele auf einem Platz versammelte Menschen hatte Lily noch nie gesehen. Selbst hier, im Observatorium oben im Turm des Sterndeuters, konnte sie sie noch singen hören.
    Sie waren davon überzeugt gewesen, dass im Turm des Sterndeuters niemand sein würde. Er war schon seit Wochen nicht mehr bewohnt. Mark hatte sich das gedacht, denn wenn Snutworth Lady Astrea die Leitung übergeben hatte, hatte sie weg von den Frontlinien ins Direktorium umziehen müssen. Hinter Lily richtete Mark das große Messingteleskop aus, das früher dem Grafen Stelli gehört hatte; er stellte es so ein, dass es hinunter auf den Marktplatz gerichtet war, damit er genau beobachten konnte, was dort geschah. Lily hingegen genoss es, einfach nur durch die Fenster zu blicken, hinunter auf die Hausdächer von Agora, die vom Sonnenuntergang nun in rotes und violettfarbenes Licht getaucht wurden.
    »Lily!«, rief Mark und zog den Kopf hinter dem Okular des Teleskops weg. »Komm und sieh dir das an!«
    Lily riss sich von ihrer Aussicht los und warf einen Blick durch das Teleskop. Einen kurzen Moment war das Bild verschwommen, bis Mark einige Einstellräder ausrichtete, und dann …
    »Bei allen Sternen!«, rief Lily begeistert aus. »Ist das Theo?«
    Aber sie hätte gar nicht zu fragen brauchen, denn jetzt war sie sich sicher, konnte ihren Freund deutlich erkennen. Er stand auf den Überresten der Barrikade und hielt eine Rede. Sie musste sie
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