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Das Laecheln der Chimaere

Das Laecheln der Chimaere

Titel: Das Laecheln der Chimaere
Autoren: Tatjana Stepanowa
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1944 geboren. Damals waren die Deutschen in Odessa. Seine Mutter war nicht mehr rechtzeitig evakuiert worden, sein Vater kämpfte an der Front.
    Er erinnerte sich auch an das seltsame, angespannte Schweigen, das manchmal zwischen den Eltern herrschte, und an den beklommenen, unterwürfigen Ausdruck in den Augen der Mutter, wenn sie den Vater anschaute. Bis zur Selbstaufgabe unterwürfig, selbst dann, wenn er betrunken nach Hause kam. Und an ihr von Schluchzen ersticktes Schreien, das ihn eines Nachts weckte: »Warum quälst du mich so? Ich hab dir doch gesagt – ich gebe dich frei, ich gehe fort und nehme das Kind mit! Ich kann so nicht weiterleben, ich kann nicht!« An das Geräusch einer Ohrfeige – trocken und scharf, und einen neuen Ausbruch von Schluchzen, und an den Klang des splitternden Fläschchens, das der Vater auf den Boden Schleuderte. Das Parfum, das aus dem zerbrochenen Flakon über den Fußboden floss, war der von der Mutter geliebte Duft »Roter Mohn« . . .
    Nach dem Krieg hatte der Vater angefangen zu trinken. Zwar machte man ihm, dem Invaliden und Ordensträger, dafür auf der Arbeit kaum Vorwürfe. Wahrscheinlich bedauerte man ihn. Und auch zu Hause ließ die Mutter sich von ihm alles gefallen.
    Soweit Saljutow sich erinnerte, hatte er sie niemals DANACH gefragt. Er konnte es nicht. Auch den Vater fragte er nicht. Aber er horchte gierig auf den Klatsch in Lusanowka, und die Wahrheit, die er dort aufschnappte, war einfach und verblüffend zugleich. Seine Mutter hatte nicht mehr evakuiert werden können, so wie viele Einwohner Odessas. Um sich und ihre alten Eltern durchzubringen, hatte sie sich als Kellnerin im deutschen Offizierskasino verdingt.
    Dann ging sie, wie man in Lusanowka sagte, »mit einem Wanst« umher. Und im März 1944 brachte sie ein Kind zur Welt. Von wem es war, darüber gingen die Meinungen auseinander: vielleicht von dem deutschen Oberleutnant, dem sie die Wäsche wusch, vielleicht von dem italienischen Korporal, der in der Kommandantur Dienst tat. Der pflegte sie sogar mit einer Droschke von zu Hause abzuholen. Vielleicht aber auch von dem rumänischen Offizier, den der Volksmund der Lusanowka nur den »besoffenen bessarabischen Schnauzbart« schimpfte.
    Unzählige Male stand der achtjährige, neunjährige, zehnjährige Waleri Saljutow vor dem Spiegel, starrte sich an und suchte in seinem Gesicht die Züge dieser Männer.
    Dann, viele Jahre später, als er schon erwachsen und seine Mutter gestorben war, entschloss sich Saljutow, mit dem einzigen Menschen, der die Wahrheit wusste, zu reden – mit Tante Polina, der Schwester seiner Mutter. Er nannte die Dinge grob und schonungslos beim Namen, fragte sie unverblümt, wer denn nun eigentlich sein Vater sei. Tante Polina brach in Tränen aus und sagte, er habe kein Recht, über seine Mutter zu richten. Sie habe tatsächlich als Kellnerin im Offizierskasino gearbeitet, und die Deutschen dort hätten die russischen Angestellten als ihre Kriegsbeute betrachtet. Tante Polina schwor, das alles sei die Folge einer rohen Vergewaltigung gewesen. Was denn sonst! Und dann habe seine Mutter fast den Verstand verloren, als sie erfahren musste, dass sie schwanger war, und als er auf die Welt gekommen sei, habe er gar nicht den Namen Waleri bekommen, sondern . . . »Wie?!«, fragte er. »Wer hat mir einen Namen gegeben, mein Vater?« Aber Tante Polina beteuerte, sie könne sich nicht mehr daran erinnern und das sei auch gar nicht wichtig. Die Hauptsache sei, dass sein Vater, sein wahrer Vater, nach der Rückkehr aus dem Krieg alles verstanden und verziehen habe, bei seiner Familie geblieben sei und Frau und Sohn akzeptiert habe. Geblieben war er nicht etwa deswegen, weil er ein armseliger Krüppel war, wie die bösen Zungen der Lusanowka behaupteten, sondern weil er seine Frau aufrichtig liebte, so sehr liebte, dass er ihr sogar diesen Fehltritt verzeihen konnte. Nur eine einzige Bedingung stellte er – sein Sohn müsse einen neuen Namen bekommen, den er selbst aussuchen wolle.
    Später erfuhr Saljutow noch einiges mehr, nun schon von seinem Vater. Ihm wurde klar, warum der Vater der Mutter verziehen und ihn adoptiert hatte.
    Der Vater erzählte ihm, wie er die Mutter geheiratet hatte. In Lusanowka gab es drei Schwestern. Er machte anfangs nicht der Mutter, sondern der ältesten Schwester Wera den Hof. Damals, unmittelbar vor dem Krieg, arbeitete er als Fluglehrer im Fliegerklub, und Wera war Telefonistin. Die mittlere Schwester Polina
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