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Das Laecheln der Chimaere

Das Laecheln der Chimaere

Titel: Das Laecheln der Chimaere
Autoren: Tatjana Stepanowa
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und beim Vater, obwohl er damals schon wusste, dass dieser Mann nicht sein leiblicher Vater war . . .
    Gleb Kitajew bog, ohne abzubremsen, von der Chaussee auf die breite, vom Schnee geräumte Kiefernallee ein und hielt einen Augenblick später vor dem Haus, hinter einem dunkelblauen Honda mit geöffneter Tür. Neben der Tür stand der Chauffeur und Bodyguard Ravil.
    Saljutow beobachtete aus seinem Wagen heraus die Insassen des Honda. Marina, die Witwe seines ältesten Sohnes, stieg als Erste aus dem Auto. Sie war allein gekommen, ohne ihre Kinder, die Enkel Saljutows. Nach ihr stieg mithilfe des Chauffeurs Tante Polina aus.
    Die alte Frau stützte sich schwer auf Ravils Arm. Saljutow zog sich bei diesem Anblick das Herz zusammen. Ravil bückte sich, holte aus dem Wageninneren einen Stock und reichte ihn ehrerbietig Polina Sacharowna. Dann führte er sie langsam und behutsam zu dem hell erleuchteten Eingang.
    Saljutow wusste, warum sein Chauffeur sich benahm wie ein Blindenführer: Nach dem Tod von Igor, seinem ältesten Sohn, hatte Tante Polina sich die Augen ausgeweint und war fast blind geworden. Sie hatte beide Söhne Saljutows, Igor und Philipp, großgezogen und davor auch ihn selbst.
    Schließlich stieg Saljutow aus seinem Jeep. Seine Familie war bereits im Vestibül verschwunden, hinter der massiven Eichentür. Er aber zögerte noch auf den rutschigen, grauen Marmorstufen.
    Es war erst halb acht, sehr früh also, denn gewöhnlich begann das Leben im »Haus«, wie es intern einfach genannt wurde, erst ab ungefähr neun, zehn Uhr zu pulsieren, zu brodeln. Diese frühe, dämmrige, stille Stunde hatte die Familie absichtlich gewählt, um des verstorbenen Sohnes zu gedenken, an dem Ort, der in vieler Hinsicht auch sein Traum und das Werk seiner Hände gewesen war. Denn – und bei diesem Gedanken merkte Saljutow, wie ihm der Atem stockte, und er musste heiser aufstöhnen – , denn ohne seinen ältesten Sohn Igor hätte es den »Roten Mohn« sicher nicht gegeben.
    Es hätte gar nichts gegeben.
    Saljutow hatte dafür gesorgt, dass das Bankett zu Igors Gedächtnis hier im Haus ausgerichtet wurde. Er hatte es so angeordnet, und die Familie hatte sich gefügt. Sogar Tante Polina war gekommen, die in ihrem achtzigjährigen Leben noch niemals ein Spielkasino betreten hatte. Nicht einmal den »Roten Mohn«.
    Arme alte Tante Polina. Sie war immer der Meinung gewesen, dass ihr Lieblingsneffe Waleri den falschen Beruf ergriffen hätte, seinen »hellen Kopf«, wie sie sich ausdrückte, für wichtigere Dinge hätte nutzen sollen. Vor dem »Roten Mohn« hatte sie geradezu Angst. Und jetzt, bei ihrem ersten Besuch, war sie zu alt und zu blind, um zu sehen, wie prächtig und schön das »Haus« war.
    Mein Gott, wie hatte es so weit kommen können, dass nur diese hinfällige alte Frau ihn mit der Vergangenheit verband? Was würde sein, wenn sie starb? Würde mit ihr auch die Vergangenheit sterben, so wie die Gegenwart und Zukunft mit dem Tod seines ältesten Sohnes gestorben war?
    Denn es gab Dinge, die außer ihm selbst nur diese alte Frau wusste. Zum Beispiel, dass der Name Waleri nicht der erste Name gewesen war, den er in seinem Leben bekommen hatte . . .
    Bis zu seinem siebten Lebensjahr wusste Saljutow, dass man ihn nach dem berühmten Fliegerhelden Tschkalow benannt hatte. Den Namen hatte sein Vater ausgesucht, der sich im Krieg ebenfalls Heldenruhm als Kommandeur einer Fliegerstaffel erworben hatte. Bei Königsberg war er im Luftkampf abgeschossen worden, überlebte und wurde im Lazarett wieder auf die Beine gebracht. Ein Orden, verschiedene Medaillen, eine kaputte Wirbelsäule und ein unsicherer Gang an Krücken waren sein Lohn.
    Die Saljutows lebten in Odessa, in derselben Gegend wie vor dem Krieg, in Lusanowka. Damals war das nur eine Fischersiedlung. Die Kinder aus Lusanowka wurden früh erwachsen. Schließlich war der Krieg gerade erst zu Ende gegangen.
    Beim Spielen auf der Straße kam es einmal zu einer der üblichen Balgereien unter Kindern, und da hörte er zum ersten Mal die verächtlichen Worte, die ihn zutiefst trafen: »Was hast du hier überhaupt zu suchen, du deutsche Rotznase? Das ganze Dorf weiß doch, dass deine Mutter dich von einem Fritz geboren hat!«
    Saljutow erinnerte sich bis heute genau (und seitdem war fast ein halbes Jahrhundert vergangen), wie er damals nach Hause gekommen war. Er hatte zu keinem ein Wort gesagt. Acht Jahre war er alt gewesen, er konnte schon rechnen und wusste: Er war im März
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