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Das kleine Reiseandenken

Das kleine Reiseandenken

Titel: Das kleine Reiseandenken
Autoren: Berte Bratt
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gestanden, als Tante Agate ihr eine Ohrfeige gegeben hatte. Da, auf den beiden Gasflammen, hatte sie die spärlichen Mahlzeiten gekocht. Da stand die Brotdose, aus der sie sich heimlich mitten in der Nacht eine trockene Brotscheibe geholt hatte.
    Sie ging in den Laden, zum Telefon. Sie rief bei Halls an und erklärte, warum sie noch nicht zurückgekommen sei.
    „Gut, daß du anrufst, Ingrid, wir fingen so langsam an, uns Sorgen um dich zu machen“, sagte Frau Hall. „Inge ist gerade gekommen.“
    „Ich bin in einer Stunde da“, versprach Ingrid. Dann ging sie ins Schlafzimmer und machte den Wäscheschrank auf, fuhr mit der Hand unter den Stoß Laken im unteren Fach.
    Ja, da war es, das große, graue Kuvert, das Tante Agate so am Herzen lag. Es war dick und schwer. Viel zu groß für die Handtasche. Ingrid suchte und fand die alte Einkaufstasche mit Reißverschluß. Da legte sie das Kuvert rein. Niemand sollte es sehen. Mit der Einkaufstasche fest in der Hand ging sie zum S-Bahnhof, und eine halbe Stunde später war sie zu Hause bei Familie Hall.
    „Selbstverständlich komme ich mit“, sagte Inge. „Gott, wie einsam wird die alte Frau sein, wenn sie einen fremden Menschen wie mich zu sich bittet. Soviel verstehe ich, daß sie unbedingt etwas vor ihrem Tod in Ordnung bringen will.“
    „Den Eindruck habe ich auch“, sagte Ingrid. „Es sah aus, als daß sie direkt erleichtert war, als ich kam – als ob sie nur auf einen Menschen gewartet hätte, dem sie sich anvertrauen konnte. Ich habe etwas aus ihrer Wohnung geholt, das soll ich ihr heute abend bringen. Und sie flüsterte, als ich wegging: ,Fräulein Skovsgaard soll mitkommen.’“
    „Ja, irgendwelche Verfügungen wird sie treffen“, nickte Inge. „Das ist klar. Und selbstverständlich tut man was man kann für einen einsamen alten Menschen, der im Sterben liegt.“
    „Ich glaube beinahe, daß es wirklich so ist“, sagte Ingrid. „Sogar ich kann sehen, daß sie sehr, sehr krank ist!“
    „Wenn ich bloß wüßte, warum sie will, daß du mitkommst“, sagte Ingrid, als sie und Inge abends in der Vorortbahn saßen.
    „Das kann ich mir schon denken“, antwortete Inge. „Erstens, weil ich ja etwas mehr dänisch verstehe als du…“
    „Das läßt sich nicht bestreiten“, sagte Ingrid mit einem kleinen Lächeln.
    „Zweitens, weil ich älter bin…“
    „Das stimmt auch“, nickte Ingrid.
    „Und vielleicht braucht sie eine Zeugin, eine volljährige Zeugin.“
    „Ach ja, daran habe ich nicht gedacht. So wird es wohl sein.“
    Als sie beim Pförtner Schwester Johannas Namen sagte, nickte er und ergriff das Haustelefon. „Sie können raufgehen. Schwester Johanna wartet auf Sie.“
    Das tat sie. Sie stand im Treppenhaus, vor der großen Tür zur Station.
    „Gut, daß Sie kommen. Frau Jespersen hat eine Spritze bekommen, sie ist jetzt ansprechbar, ja, sie ist vollkommen klar. Aber es wird wohl nicht lange dauern, bis sie ihre Ruhe gefunden hat. Sie liegt jetzt hier – diese Tür – wir haben sie heute nachmittag in ein Einbettzimmer gelegt.“
    Es war ein kleines Zimmer, nur mit einem Bett, einem Stuhl und einem kleinen Tisch. Auf dem Tisch lag eine Bibel, an der Wand hing ein Kreuz.
    Sterbezimmer, fuhr es Ingrid durch den Kopf.
    Tante Agates Augen waren wach und hell. Ein todkranker Mensch, dessen Gehirn noch einmal wach war, ein Mensch, der mit den allerletzten Kräften sich auf etwas konzentrierte.
    Ingrid reichte ihr das graue Kuvert. Da flog eine Andeutung von einem Lächeln über Tante Agates vom Tode gezeichnetes Gesicht.
    Sie richtete die Augen auf Inge. „Fräulein Skovsgaard, Sie sind Zeuge. Ich schenke Ingrid dieses Kuvert mit dem ganzen Inhalt. Ich bin noch am Leben. Sie sind Zeuge, daß ich noch zu Lebzeiten dies verschenkt habe. Es ist keineErbschaft, es ist ein Geschenk. Sie sind Zeuge!“
    „Ja, Frau Jespersen. Das bin ich.“
    „Hier, Ingrid. Nimm das Kuvert. Mach es erst auf, wenn du allein bist, oder nur in Gegenwart von Fräulein Skovsgaard.“
    „Das verspreche ich dir, Tante Agate.“
    Sie sahen, wie die Patientin sich entspannte, wie die Ruhe über sie kam.
    Sie schwieg eine Weile, dann flüsterte sie: „Ingrid!“
    „Ja, Tante?“
    „Ausweis. Im Schub. Zettel drin.“ Ingrid holte den Ausweis, fand einen beschriebenen Zettel. „Gib ihn mir.“
    Sie gab ihr den Zettel in die Hand.
    „So. Jetzt ist es gut. Nun kriegt sie… alles… was ihr Bruder… alles was mein Mann…“ Es kam eine Pause. Tante Agate keuchte.
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