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Das kleine Reiseandenken

Das kleine Reiseandenken

Titel: Das kleine Reiseandenken
Autoren: Berte Bratt
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Bäumen auf der einen und dem Sund mit den weißen, schaukelnden Booten auf der anderen Seite.
    „Hast du mal die kleine Seejungfrau gelesen, Ingrid?“
    „Aus Andersens Märchen? Ja, das Buch hab ich mir aus der Schulbibliothek geliehen.“
    „Da sitzt sie.“
    Inge zeigte auf eine Bronzefigur, die unten auf einem großen Stein am Uferrand angebracht war.
    Ja, da saß wirklich die kleine Seejungfrau und starrte über das Wasser.
    Sie gingen weiter, langsamer.
    „Nun, Ingrid? Du bist so schweigsam?“
    „Ja, weißt du – es gibt hier so furchtbar viel zu sehen, daß ich immer nur gucken muß. Da kann ich nicht auch noch reden. Kopenhagen ist so schrecklich groß. Winzig klein komme ich mir vor.“
    „Aber das ist doch begreiflich. Und für heute abend hast du genug gesehen. Wir wollen umkehren, du sollst ja auch noch dein Tagespensum Dänisch lernen, nicht wahr? Was kannst du bis jetzt? Tak – ja, das ist sehr notwendig, Verzeihung, bitte – was noch?“
    Ingrid sagte die dänischen Vokabeln für Milch, Kartoffeln, Fleisch, Wurst, Brot, Eier, Hund, Haus, Auto und Straßenbahn auf.
    „Sieh mal einer an, so viel hast du an einem einzigen Tag gelernt! Du sollst sehen: bis du zu Tante Agate kommst, kannst du fließend dänisch reden.“
    Ingrid schwieg einen Augenblick. Dann fragte sie zögernd: „Inge – wie war Tante Agate?“
     „Wie sie war…?“
    „Ja, war sie so wie du? So freundlich und lustig, meine ich, oder…“
    Inge biß sich auf die Lippe, sie schwieg ein Weilchen. Dann antwortete sie langsam: „Im Grunde kann ich es gar nicht beurteilen nach dem kurzen Besuch im Krankenhaus. Sie hatte wohl auch noch Schmerzen. Das mit dem Auto muß ein ziemlicher Schock für sie gewesen sein. Nun, sie ist zwischen sechzig und siebzig, hat graue Haare, ist ein bißchen füllig – nein, ich kann sie nicht beschreiben, Ingrid. Die Unterhaltung war – ja, eigentlich redeten wir nichts weiter, als daß ich einen Gruß von dir bestellte und ihr sagte, du seiest in guter Hut.“
    „Solltest du mich nicht wiedergrüßen? Hat es ihr nicht leid getan, daß ich umsonst warten mußte?“
    Diese Frage hatte Inge befürchtet. Bei all ihrer Leichtigkeit und fröhlichen Gemütsart hatte sie einen Grundsatz, von dem sie niemals abwich: Sie log nicht.
    „Sie sagte es nicht geradezu. Aber ich möchte dich mal sehen, ein paar Stunden nachdem du von einem Auto angefahren worden bist. Glaubst du, daß du dann daran denken würdest, Grüße zu bestellen, wie?“
    Ingrid fragte nicht mehr.
    Sie gingen nach Haus. Ingrid bekam Bleistift und Papier und fing an, dänische Vokabeln nach Inges Diktat aufzuschreiben. Inge erklärte ihr einiges über den Bau der Sprache und zeigte, worin sie sich vom Deutschen unterschied, auch wenn die Wörter einander oft sehr ähnlich waren.
    Sie wurden durch ein Klingeln an der Tür unterbrochen. Als Inge öffnete, hörte man ihrer Stimme eine frohe Überraschung an. Da mußte ein lieber Besuch gekommen sein! Es wurden ein paar muntere Sätze auf dänisch gewechselt.
    Dann wandten sich die Gäste – ein jüngeres Ehepaar – in einem unbeholfenen, aber sehr drolligen Deutsch an Ingrid: „Willkommen in Dänemark, kleines Reiseandenken! Das ist wirklich nett fürunsere Freundin Inge! Wir haben immer gesagt, sie müßte in ihrer Einsamkeit etwas Geselligkeit haben.“
    „Ingrid, das sind meine guten Freunde. Architekt Hall und seine Frau. Sie sind angeblich gekommen, um mich nach so langer Zeit wiederzusehen, aber in Wirklichkeit wollen sie Kaffee trinken – ich kenne sie!“
    Ingrid machte große Augen. Diese Art scherzhafter Unverfrorenheit kannte sie nicht von daheim. Aber die fröhlichen Gesichter, das freundliche Lächeln, der Tonfall allein schon bewiesen, daß von Unverfrorenheit gar keine Rede sein konnte. Es war ein Freimut, wie gute Freunde ihn sich untereinander wohl herausnehmen durften.
    „Soll ich den Kaffee machen?“
    „Und ob du das sollst! Wenn du so lieb sein willst?“ Die Unterhaltung in der Wohnecke ging lebhaft hin und her, während Ingrid mit dem Kaffeekochen beschäftigt war. Sie kannte jetzt schon Inges Geschmack und machte so starken Kaffee, daß Tante Margrete zu Haus sich wegen einer solchen Verschwendung des teuren Bohnenkaffees bekreuzigt hätte.
    „Ich kenne nur einen einzigen Menschen, dem so etwas passieren kann“, lachte Herr Hall. Er redete wieder deutsch und wandte sich an Ingrid. „Ein niedliches junges Mädchen im Zuge aufzulesen, sie mit nach Haus zu
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