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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis
Autoren: Jostein Gaarder
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erste Seite auf und versuchte, die winzigen Buchstaben zu lesen, aber es war einfach unmöglich. Da erst fiel mir die Lupe wieder ein. Ich holte meine Hose, fand die Lupe in ihrem grünen Etui in der Tasche und hielt sie über die Buchstaben der ersten Seite. Die waren noch immer winzig klein, aber jetzt waren sie groß genug, daß ich sie lesen konnte, wenn ich mich tief über die Lupe beugte.

PIK FÜNF
    ... und hörte den Alten auf dem Dachboden herumgehen...
     
     
     
    Lieber Sohn – ich muß Dich so nennen dürfen. Wenn ich hier sitze und meine Lebensgeschichte niederschreibe, weiß ich, daß Du eines Tages ins Dorf kommen wirst. Vielleicht schlenderst Du an der Bäckerei in der Waldemarstraße vorbei und bleibst vor dem Goldfischglas stehen. Du weißt selber nicht, warum Du gekommen bist, aber ich weiß, daß Du nach Dorf kommst, um die Geschichte der Purpurlimonade und der magischen Insel weiterzuführen.
    Ich schreibe im Januar 1946 und bin noch ein junger Mann. Wenn Du mir in dreißig oder vierzig oder mehr Jahren begegnest, werde ich alt und weißhaarig sein. Deshalb schreibe ich Dir auch für die Zeit, die nach mir kommt.
    Das Papier, auf dem ich schreibe, ist wie ein Rettungsfloß, unbekannter Sohn. Ein Rettungsfloß kann in Wind und Wetter dahintreiben, ehe es vielleicht auf einen Hafen in der Ferne zusteuert. Aber manche Flöße segeln in eine ganz andere Richtung. Sie segeln aufs Morgenland zu. Und von dort führt kein Weg zurück.
    Woher ich weiß, daß gerade Du die Geschichte weitertragen wirst? Ich werde es sehen, wenn Du auf mich zukommst, mein Sohn. Ich werde sehen, daß Du das Zeichen trägst.
    Ich schreibe auf norwegisch, damit Du alles verstehst, und auch, weil die Dörfler die Geschichte der Zwerge nicht lesen sollen. Dann würde das Geheimnis der magischen Insel zur Sensation, aber eine Sensation ist immer dasselbe wie eine Neuigkeit, und eine Neuigkeit hat nie ein langes Leben. Sie erregt Aufmerksamkeit, dann wird sie vergessen. Aber die Geschichte der Zwerge darf nie im Geflimmer der Neuigkeiten untergehen. Es ist besser, daß nur ein Mensch das Geheimnis der Zwerge kennt, als daß alle Menschen es vergessen.
     
    Ich war einer von vielen, die nach dem Zweiten Weltkrieg einen neuen Zufluchtsort suchten. Halb Europa hatte sich in ein Flüchtlingslager verwandelt. Ein ganzer Erdteil lebte im Zeichen des Aufbruchs. Aber wir waren nicht nur politische Flüchtlinge, wir waren auch heimatlose Seelen, auf der Suche nach uns selber.
    Ich mußte Deutschland verlassen, um mir ein neues Leben aufzubauen, aber für einen Unteroffizier der Armee des Dritten Reiches gab es nicht viele Fluchtmöglichkeiten. Ich gehörte nicht nur einer zerschlagenen Nation an; aus dem Land im Norden hatte ich auch eine zerschlagene Liebe mitgebracht. Die ganze Welt um mich herum lag in Scherben.
    Ich wußte, ich würde nicht in Deutschland leben können, aber ich konnte auch nicht nach Norwegen zurückkehren. Am Ende schlug ich mich durch die Berge und gelangte in die Schweiz. Ich irrte einige verwirrte Wochen umher, doch dann kam ich nach Dorf und lernte den alten Bäcker Albert Klages kennen.
    Ich kam aus den Bergen und war entkräftet vom Hunger und von den vielen Tagen meiner Wanderung, als ich das kleine Dorf entdeckte. Der Hunger ließ mich wie ein gehetztes Reh durch den dichten Laubwald rennen, dann brach ich vor einem alten Holzhaus zusammen. Ich hörte die Bienen summen und roch den Duft von Milch und Honig.
    Der alte Bäcker muß es geschafft haben, mich ins Haus zu tragen. Als ich auf einer Pritsche erwachte, sah ich einen weißhaarigen Mann in einem Schaukelstuhl sitzen und Pfeife rauchen. Als er sah, daß ich die Augen öffnete, stand er sofort neben mir.
    »Du bist nach Hause gekommen, lieber Sohn«, sagte er tröstend. »Ich wußte, daß du eines Tages an meine Tür kommen würdest. Um den Schatz zu holen, mein Junge.«
    Dann muß ich wieder eingeschlafen sein. Als ich erwachte, war ich allein. Ich stand auf und ging hinaus auf die Vordertreppe. Dort beugte sich der Alte über einen Tisch aus Steinen. Auf der schweren Tischplatte stand ein schönes Glasgefäß. Darin schwamm ein bunter Goldfisch. Es kam mir gleich sehr seltsam vor, daß ein kleiner Fisch aus einem weit entfernten Meer so munter hier oben in den Bergen mitten in Europa herumschwimmen konnte. Ein Stück des lebendigen Meeres war in die Schweizer Alpen getragen worden.
    »Grüß Gott«, begrüßte ich den Alten.
    Er drehte sich um und
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