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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis
Autoren: Jostein Gaarder
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daß sie Blut hustete, wurde ich so böse, daß ich alles zerschlug, was ich in der Küche finden konnte: Untertassen und Becher und Gläser, alles, was mir in die Finger kam. Damals habe ich wohl zum ersten Mal gedacht, daß sie würde sterben müssen.
    Ich weiß noch, wie mein Vater eines Sonntagmorgens zu mir kam, ehe die anderen im Haus wach waren.
    ›Albert‹, sagte er, ›wir müssen miteinander reden, denn Mutter wird bald sterben.‹
    ›Sie stirbt nicht!‹ rief ich wütend. ›Du lügst!‹
    Aber das tat er nicht. Uns blieben noch einige Monate. Obwohl ich noch so klein war, gewöhnte ich mich an den Gedanken an den Tod, lange bevor er schließlich eintrat. Ich sah, wie Mutter immer blässer und dünner wurde. Sie hatte immer Fieber.
    Vor allem erinnere ich mich an die Beerdigung. Meine beiden Brüder und ich mußten uns bei Freunden im Dorf Trauerkleidung leihen. Ich war der einzige, der nicht weinte; ich war so wütend auf Mutter, die uns verlassen hatte, daß ich ihr keine einzige Träne gönnte. Seither habe ich Wut immer für die beste Medizin gegen Trauer gehalten...«
    Der alte Mann schaute mich an – als wüßte er, daß auch ich an großer Trauer litt.
    »Nun mußte Vater fünf Kinder versorgen«, fuhr er fort. »Anfangs kamen wir ganz gut zurecht. Zusätzlich zur Arbeit auf unserem kleinen Hof übernahm Vater auch das Postamt des Dorfes. Damals wohnten hier nur zwei-, dreihundert Menschen. Meine älteste Schwester, die damals dreizehn war, kümmerte sich um den Haushalt. Die anderen halfen auf dem Hof, aber ich – zu klein, um mich nützlich zu machen – war meistens mir selber überlassen. Nicht selten saß ich auf dem Friedhof an Mutters Grab und weinte. Ich hatte ihr ihren Tod noch nicht verziehen.
    Bald fing Vater an zu trinken, erst an den Wochenenden, dann jeden Tag. Zuerst verlor er das Postamt, dann verfiel auch der Hof. Meine beiden Brüder brannten nach Zürich durch, noch ehe sie erwachsen geworden waren. Ich blieb mir selber überlassen.
    Als ich älter wurde, wurde ich oft gehänselt, weil mein Vater ›an der Traube hing‹, wie es hieß. Wenn sie ihn sturzbetrunken im Dorf aufgriffen, brachten sie ihn heim und ins Bett. Die Strafe bekam ich. Immer mußte ich dafür bezahlen, daß Mutter tot war, fand ich.
    Am Ende aber gewann ich einen guten Freund, den Bäcker-Hans. Er war ein alter weißhaariger Mann, der seit einem Menschenalter die Bäckerei des Dorfes innehatte, aber er war nicht in Dorf aufgewachsen und wurde immer noch als Fremder angesehen. Außerdem war er von der wortkargen Sorte. Niemand in Dorf hatte das Gefühl, ihn zu kennen.
    Der Bäcker-Hans war früher Seemann gewesen und hatte sich erst als Bäcker in Dorf niedergelassen, als er nach vielen Jahren auf See an Land gegangen war. Wenn er, was selten vorkam, im Unterhemd durch die Bäckerei ging, sah man vier riesige Tätowierungen an seinen Armen. Allein das machte den Bäcker-Hans ein bißchen geheimnisvoll, fanden wir. Die anderen Männer im Dorf waren nicht tätowiert.
    Ich erinnere mich vor allem an die Tätowierung, die eine Frau zeigte, die auf einem großen Anker saß. Unter dem Bild stand maria. Über diese Maria waren viele Geschichten im Umlauf. Sie sollte seine Liebste gewesen und an Tuberkulose gestorben sein, als sie noch keine zwanzig war. Andere erzählten, der Bäcker-Hans habe einst eine Deutsche namens Maria umgebracht und sich deshalb in der Schweiz niedergelassen...«
    Ich hatte das Gefühl, daß Albert mich anblickte, als wüßte er, daß auch ich von einer Frau fortgegangen war. Er glaubt doch wohl nicht, ich hätte sie umgebracht, überlegte ich. Doch dann fügte er hinzu: »Es gab auch Leute, die behaupteten, er sei auf einem Schiff namens Maria gefahren, das irgendwo auf dem großen Atlantik untergegangen sei.«
    Jetzt stand Albert auf und holte einen großen Laib Käse und ein Brot. Er stellte zwei Gläser und eine Flasche Wein auf den Tisch.
    »Langweile ich dich, Ludwig?« fragte er.
    Ich schüttelte energisch den Kopf, und der alte Bäcker fuhr fort.
    »Ich als das Waisenkind, das ich im Grunde war, stand oft vor der Bäckerei in der Waldemarstraße. Ich hatte oft Hunger und fand, da half es schon, die vielen Brote und Kuchen auch nur anzusehen. Aber eines Tages winkte der Bäcker-Hans mich ins Haus und schenkte mir ein großes Stück Rosinenkuchen. Seit diesem Tag hatte ich einen Freund. Mit diesem Tag beginnt meine Zeitrechnung, Ludwig.
    Von nun an war ich dauernd beim Bäcker-Hans.
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