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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis
Autoren: Jostein Gaarder
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Restaurant hatte geöffnet, deshalb mußten wir nicht in den kleinen Speisesaal. Ein paar Dörflinge saßen um einen der Tische und tranken Bier aus Krügen. Wir aßen Würstchen und Schweizer Sauerkraut. Als Nachtisch gab es eine Art Apfelkuchen mit Alpensahne.
    Nach dem Essen wollte Vater noch »den Alpenbranntwein testen«, wie er sagte. Ich fand das so öde, daß ich mit einer Flasche Himbeerlimonade auf unser Zimmer ging. Dort las ich zum letzten Mal dieselben norwegischen Micky-Maus-Hefte, die ich schon mindestens zehn- oder zwanzigmal durchhatte. Dann legte ich Patiencen. Ich legte zweimal eine »Harfe«, blieb aber beide Male gleich nach dem Kartenauslegen stecken. Danach ging ich wieder ins Restaurant hinunter.
    Ich wollte wenigstens versuchen, Vater aufs Zimmer zu holen, ehe er zu blau wäre, um mir Geschichten von den sieben Weltmeeren zu erzählen. Aber er hatte den Alpenbranntwein einwandfrei noch nicht genug getestet. Außerdem unterhielt er sich jetzt auf deutsch mit den Dörflingen.
    »Mach doch einen Spaziergang und sieh dich im Ort um«, sagte er.
    Ich fand es feige, daß er nicht mitkommen wollte. Aber heute – heute bin ich froh darüber, daß ich getan habe, was er mir sagte. Ich glaube, ich bin unter einem glücklicheren Stern geboren als mein Vater.
    Ich brauchte genau fünf Minuten, um mich »im Ort umzusehen«, so klein war er. Im Grunde bestand Dorf aus einer einzigen Straße, der Waldemarstraße. Besonders phantasievoll waren die Dörflinge nicht.
    Ich war immer noch sauer auf Vater, weil er mit denen zusammensaß und Alpenbranntwein trank. »Alpenbranntwein!« – Das klang irgendwie ein bißchen hübscher und harmloser als »Schnaps«. Vater hatte einmal gesagt, er könne aus Gesundheitsgründen nicht mit dem Trinken aufhören. Ich hatte mir diesen Satz oft wiederholen müssen, ehe ich ihn verstand. Normalerweise sagen die Leute das Gegenteil, aber mein Vater konnte schließlich eine seltene Ausnahme sein. Er war nicht umsonst ein Deutschenkind.
    Alle Läden in der Waldemarstraße hatten geschlossen; trotzdem hielt ein roter Lieferwagen vor einem Lebensmittelgeschäft, um Waren auszuladen. Ein kleines Mädchen warf einen Ball gegen eine Mauer, ein alter Mann saß auf einer Bank unter einem hohen Baum und rauchte eine Stummelpfeife. Aber das war auch alles! Obwohl es hier Häuser wie aus dem Märchen gab, fand ich das kleine Alpendorf stinklangweilig. Und schon gar nicht verstand ich, was ich hier mit einer Lupe sollte.
    Das einzige, was meine Stimmung hob, war die Tatsache, daß wir am nächsten Morgen weiterfahren würden. Irgendwann nachmittags oder abends würden wir Italien erreichen. Von dort aus würden wir durch Jugoslawien nach Griechenland fahren – und dort würden wir vielleicht Mama finden. Bei dem Gedanken kitzelte es mich im Bauch.
    Ich überquerte vor einer kleinen Bäckerei die Straße. Das Schaufenster war das einzige, das ich mir noch nicht angesehen hatte. Neben einer Schale mit alten Plätzchen stand ein Glas mit einem einsamen Goldfisch. Oben am Rand des Glases fehlte eine Ecke. Die Kerbe war ungefähr so groß wie die Lupe, die mir der geheimnisvolle Zwerg von der Tankstelle gegeben hatte. Ich zog das Etui aus der Tasche, nahm sie heraus und betrachtete sie. Sie war nur ein bißchen kleiner als das Stück, das am Goldfischglas fehlte.
    Ein winzig kleiner orangefarbener Goldfisch schwamm im Glas herum. Wahrscheinlich lebte er von Kuchenkrümeln. Ich überlegte mir, daß vielleicht das Reh versucht hatte, den Fisch zu verspeisen, und dann statt dessen ins Glas gebissen hatte.
    Plötzlich fielen die Abendsonnenstrahlen auf das kleine Fenster und ließen das Glas aufleuchten. Nun sah ich, daß der Fisch nicht nur orangefarben war. Er war auch rot und gelb und grün. Wasser und Glas übernahmen jetzt die Farben des Fisches, den ganzen Malkasten auf einmal. Und je länger ich Fisch und Glas und Wasser anstarrte, desto mehr vergaß ich, wo ich war. Für einige Sekunden glaubte ich sogar, ich sei der Fisch im Glas und der Fisch stehe draußen und glotze.
    Während ich den Fisch im Glas anstarrte, entdeckte ich plötzlich, daß hinter der Theke in der Bäckerei ein alter weißhaariger Mann stand. Er sah mich an und winkte, daß ich hereinkommen solle.
    Ich fand es ein bißchen seltsam, daß die Bäckerei abends geöffnet hatte, und warf erst einen Blick zurück zum »Schönen Waldemar«, ob mein Vater vielleicht gerade eben genug Alpenbranntwein getrunken hatte, aber als
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