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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
Autoren: Gunter Gerlach
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nach Hause. Er arbeitete damals bei einer Zeitungsredaktion als Reporter. Ich hörte seinen Wagen. Er parkte ihn in der Einfahrt dicht vor dem Haus. Dann kam er mit großen Schritten herein. Ohne ein Wort ging er zum Kühlschrank, nahm sich ein Bier heraus.
    »Prost«, sagte er zu mir, hob die Flasche, setzte sich an den Küchentisch und trank. Nachdem er die Flasche abgesetzt hatte, sah er das restliche Einkaufsgeld auf dem Tisch liegen. Mit einer ausholenden Handbewegung strich er es zusammen und steckte es in die Hosentasche. Kurz darauf kam meine Mutter aus dem ersten Stock. Sie betrachtete die Einkäufe, tippte mit dem Finger auf die einzelnen Lebensmittel, prüfte, ob ich nichts vergessen hatte, und fragte dann nach dem Rückgeld.
    Ich zeigte auf meinen Vater und sagte, er habe es eingesteckt. Mein Vater stand auf und gab mir eine Ohrfeige, beschimpfte mich, wie ich dazu käme, so etwas zu behaupten.
    Ich sah meine Mutter an, sie hob die Hand ans Kinn und dachte nach. Ich wollte nicht weinen, auf keinen Fall weinen, aber ich konnte auch nicht sprechen. Mein Vater stand noch neben mir, und in meiner Erinnerung hatte er schwarze Haut, nicht wie ein Afrikaner, sondern dunkler. Er war wie aus Kohle. Ich dachte, dass die Frau mit der großen Nase an der Kasse niemals einen solchen Mann geheiratet hätte.
    Meine Mutter nickte, sie strich mir über den Kopf.
    »Du hast recht«, sagte sie, »es ist dein Geld gewesen. Ich habe es dir, glaube ich, selbst gesagt. Jedenfalls musstest du es so verstanden haben. Ich will es also auch gar nicht zurück.«
    Ich wollte meine Behauptung nicht wiederholen. Mein Vater hätte ein weiteres Mal zugeschlagen.
    Sie ging aus dem Raum. Mein Vater nahm die zweite Flasche Bier aus dem Kühlschrank.
    »Du bist ein Dieb«, sagte ich. Ich wollte ihm einen wirklichen Grund liefern, mich zu schlagen. »Du bist böse, du bist der Teufel.« Mir fielen in diesem Moment keine Beleidigungen, keine Schimpfworte ein.
    Er sah mich an, lachte und trank. Er hätte es mir zurückgeben können, wir hatten immer genug Geld. Aber er rückte es nicht wieder heraus. Es war sein Triumph über mich, meine Mutter, über die ganze Welt.
    Meine Familie, die Godins, habe ich erst viele Jahre später verlassen. Ich war mit meinem Studium fast fertig, hatte mich schon selbstständig gemacht, besaß mit einem Partner zusammen ein eigenes Grafikbüro. Ich weiß, ich hätte früher gehen müssen, viel früher. Vielleicht damals. Aber ich war nie richtig in dieser Welt. Mir fehlte etwas Wesentliches, um eine solche Entscheidung fällen zu können.
    Heute glaube ich, meine Mutter wollte mich wegschicken, weil sie ahnte, was kurz darauf mit meinem Bruder geschehen würde. Hätte ich mit acht Jahren meine Familie verlassen, das Unglück wäre nicht geschehen.

4
    Die Trennung von meiner Familie war der Versuch, aufzuwachen, ein Mensch zu werden. Endgültig in der Wirklichkeit anzukommen. Etwas hinzuzugewinnen, was ich dort nicht bekam.
    Aber vor allem war es der Versuch, nicht mehr an meinen Großvater zu denken, an seine Experimente mit mir.
    Doch seit einiger Zeit besetzte er wieder regelmäßig meine Gedanken. Es musste einen Auslöser gegeben haben, dessen ich mir nicht bewusst gewesen war. Meine Erinnerungen führten zu der Erkenntnis, dass William Godin mir noch etwas schuldig war. Er musste noch bezahlen für das, was er mir genommen hatte. War das Wut, was ich fühlte? Bisher hatte ich geglaubt, dazu nicht fähig zu sein.
    Ich kam mit den Brötchen zurück, und Scotty war noch da. Sie pfiff ein Lied, küsste mich auf die Stirn, als wäre nichts geschehen. Die Küche dampfte vom Kaffee- und Eierkochen. Kein Wunder, das Haus war als Geschäftshaus gebaut worden, die Pantry war schmal, ohne Fenster, wie in Büros üblich. Dieser kleine Raum hat wie das Badezimmer der Dekorationswut der Bauchtänzerin widerstanden. Die Unternehmung, mit farbigen transparenten Seidentüchern die Decke zu einem Wolkenhimmel abzuhängen, scheiterte. Sie hatten mehr wie zum Trocknen aufgehängte Handtücher gewirkt und nach einer Woche wegen der schlechten Belüftung Flecke bekommen. Aber da war die Bauchtänzerin schon weg.
    Scotty ging mir voraus ins Wohnzimmer und setzte sich auf den Rand einer der Stühle, die mit orangefarbenen Stoffen abgedeckt waren. Der Tisch war gedeckt. Sie trug einen Pulli und eine Hose in aufeinander abgestimmten Rottönen, passend zu ihrem Haar. Sie presste die Beine zusammen, faltete die Hände auf den Knien,
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