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Das Intercom-Komplott

Das Intercom-Komplott

Titel: Das Intercom-Komplott
Autoren: Eric Ambler
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Verschwinden wurde die Polizei unterrichtet.
    Im Kanton Genf wird nach einer Vermißtenmeldung ein umfassendes und gründliches polizeiliches Ermittlungsverfahren eingeleitet. Dazu gehört das Ausfüllen eines Formulars mit sämtlichen Einzelheiten zur Person ebenso wie eine Überprüfung der Hospitäler und Leichenschauhäuser, die fernschriftliche Benachrichtigung der benachbarten Polizeistationen und der angrenzenden Kantone, Ermittlungen bei Verwandten und Bekannten, Recherchen an dem Ort, wo der Vermißte zuletzt gesehen wurde, und – wenn es sich um einen Ausländer handelt – die Unterrichtung des entsprechenden Konsulats.
    Im Fall Latimers waren Angehörige, die Auskunft hätten geben können, nicht sofort greifbar. Er war unverheiratet, und sein einziger noch lebender Blutsverwandter – so ermittelte man – war ein älterer Bruder, der damals auf Kreuzfahrt irgendwo in der Karibischen See schwamm. Da man aber immerhin wußte, daß Latimer zum letzten Mal am Flughafen gesehen worden war, verhörte man dort eine Reihe von Personen. Ergebnis war, daß sich die Presse fast sofort dieser Angelegenheit annahm.
    Im Who’s Who hatte Charles Latimer Lewinson sich selbst einen Historiker genannt, und das war er zweifellos auch. So hatte er zum Beispiel Bücher über die Hansa, über die Entwicklung des Bankwesens im siebzehnten Jahrhundert und über das Gothaer Kompromißprogramm der Sozialisten geschrieben, und er war Dozent an einer englischen Universität gewesen. Seine Biographie John Laws, des bedeutendsten Nationalökonomen des achtzehnten Jahrhunderts, halten viele für die beste Arbeit über dieses Thema. Seine Bekanntheit außerhalb eines kleinen Kreises der akademischen Welt jedoch gründete sich nicht auf diese Schriften, sondern auf die Kriminalromane, die er unter dem Pseudonym Charles Latimer veröffentlicht hatte. Über zwanzig Titel waren es mittlerweile, und zumindest drei von ihnen – Die blutige Schaufel, In den Armen des Mörders und Die verschlossene Pforte – zählten zu den Klassikern dieses Genres. Seine historischen Veröffentlichungen konnten nur in englischer Sprache gelesen werden und hatten nur ein begrenztes Publikum. Seine Kriminalromane hingegen waren in viele Sprachen übersetzt worden und fanden ihre Leser in aller Welt. Sie trugen ihm nicht nur den Ruf eines fesselnden Autors ein, sondern sicherten ihm auch das Einkommen, das es ihm erlaubte, so komfortabel auf Mallorca zu leben. Und an ihnen lag es vor allem, daß sein Verschwinden Schlagzeilen machte. Kein Reporter, kein Redakteur, der nicht darauf hingewiesen hätte, daß sein Schicksal ebenso mysteriös und außergewöhnlich war wie seine Romane.
    Hatte er sein Verschwinden selbst arrangiert? Wenn ja, warum und wie?
    War er entführt worden? Wenn ja, wie und warum?
    War er überhaupt noch am Leben?
    Tot oder lebendig, wo war er?
    Das waren die Fragen, die die Zeitungen stellten. Das waren auch die Probleme, mit denen sich die Polizei beschäftigte.
    Für manche Fragen fanden sich Antworten; weil dadurch aber nur immer wieder neue Probleme aufgeworfen wurden, kam man damit nicht weiter.
    So stellte man zum Beispiel fest, daß Latimer keinen Gesprächstermin mit einem NATO-Offizier in Evère vereinbart hatte. Also hatte er Mlle. Deladoey belogen; er wollte nicht, daß sie über seine Pläne Bescheid wußte.
    Warum nicht? Was mußte man einer Sekretärin verheimlichen, die man nur für kurze Zeit engagiert hat? Was hätte sie erfahren, wäre ihr das wirkliche Ziel seiner Reise bekannt gewesen? Und – wenn er seine mysteriöse Reise geheimzuhalten hoffte – warum war er nicht ebenso unauffällig zurückgekommen, wie er abgefahren war? Alle Anzeichen sprachen dafür, daß er hatte zurückkehren wollen. Welches Ereignis hatte bewirken können, daß er seine Pläne änderte? Oder waren andere es gewesen, die ihn dazu gezwungen hatten?
    Es war Mlle. Deladoey selbst, die – ermüdet von den stundenlangen Verhören durch die Polizei – zu bedenken gab, daß die Antworten auf alle Fragen möglicherweise in dem unvollendeten Buch zu finden seien, an dem der Vermißte gearbeitet hatte. Warum, so fragte sie, las man nicht einmal in dem maschinegeschriebenen Manuskript, das auf seinem Schreibtisch im Hotelzimmer lag?
    Die Polizei schien zunächst diesem Vorschlag keine Beachtung schenken zu wollen. Das war nicht verwunderlich, denn man nahm an, daß es sich um einen Kriminalroman handelte. Nachdem die Polizei sich jedoch vom
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