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Das Hotel

Das Hotel

Titel: Das Hotel
Autoren: Heyne
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Orientierungssinn hatte sie verlassen. Grandma joggte weiter wie ein Hase. Sie wurde immer schneller, und Kelly fiel immer weiter zurück.
    » Nicht so schnell! JD kommt nicht hinterher!«
    Natürlich hatte JD überhaupt keine Probleme. Kelly auch nicht, zumindest nicht, was ihre Kondition anging. Nach sieben Monaten Triathlon-Training war sie fit wie ein Turnschuh und ungeheuer stolz darauf, dieses Jahr die jüngste Teilnehmerin zu sein. Aber sie war es gewohnt, auf Asphalt zu laufen, nicht mitten in der Wildnis, wo sie bei einem Schritt auf einem Stein landete und beim nächsten auf feuchtem Waldboden, in dem sie beinahe stecken blieb. Kelly verschwendete so viel Zeit damit, sich auf den nächsten Schritt zu konzentrieren, dass sie fürchtete, Grandma aus den Augen zu verlieren.
    » Achte nicht auf deine Füße.«
    Sie zuckte zusammen. Auf einmal stand Grandma direkt vor ihr.
    » Aber dann breche ich mir die Knöchel.«
    » Schau mir in die Augen, Kelly.«
    Kelly gehorchte. Grandmas Augen waren blau wie die von Kelly und Mom, aber in tiefe Falten eingebettet. Kelly hatte Grandma noch nie lächeln gesehen. Nicht, dass sie verbittert gewesen wäre, aber sie wirkte stets ausgesprochen ernst.
    » Siehst du meine Hand?«, fragte Grandma.
    Kelly senkte den Blick und schaute auf ihre faltigen Hände.
    » Nein, Kelly. Guck mir in die Augen.«
    Kelly seufzte und gehorchte.
    » Augen schön auf die meinen gerichtet. Kannst du jetzt meine Hand sehen?«
    Nein, das konnte sie nicht. Zumindest nicht richtig, nur ungefähr.
    » Könnte sein.«
    » Und? Was mache ich gerade?«
    » Du spielst mit den Fingern.«
    » Gut. Jetzt pass auf.«
    Grandma trat einen Schritt zurück, die Beine gespreizt und die Hände auf Hüfthöhe. Dann hob sie rasch die Arme über den Kopf und brachte sie in großen Kreisen wieder in die Ausgangsstellung zurück – Handflächen nach außen –, ohne den Blick von Kelly abzuwenden.
    » Und was soll das?«, wollte Kelly wissen.
    » Der Anfang der Kushanku-Kata. Es dient dazu, das periphere Sehen zu trainieren. Ziel ist es, die eigenen Hände zu sehen, während man nach vorne schaut.«
    » Warum?«
    » Um sich allem bewusst zu sein, was um einen herum geschieht – und nicht nur dessen, was direkt vor einem passiert.«
    » Und?«
    » Und dann weißt du, wenn jemand das hier versucht.«
    Kelly verspürte einen Luftzug an der Wange. Sie blickte zur Seite und sah Grandmas Hand keine fünf Zentimeter von ihrer Wange entfernt. Kelly hatte überhaupt nicht bemerkt, dass sich Grandma bewegt hatte.
    JD knurrte und fletschte die Zähne.
    » Pst!«, befahl Grandma. » Sei schön lieb.«
    Der Hund winselte, setzte sich und fing erneut an, sich zu lecken.
    » Kannst du mir das beibringen?«, fragte Kelly. » Ich meine, so schnell zuzuschlagen?«
    » Das kommt ganz auf deine Mutter an. Der Kampfsport hat ihr noch nie so zugesagt.«
    » Mach das Kata-Dings noch mal.«
    » Die Kushanku-Kata.«
    Grandma wiederholte den Bewegungsablauf. Kelly reichte ihr die Leine und versuchte es ebenfalls. Sie konnte kaum ihre Hände am Rand ihres Blickfelds ausmachen.
    » Ich sehe sie«, behauptete sie.
    Aber sie glaubte auch, noch etwas anderes gesehen zu haben. Etwas, das sich im Wald bewegte. Kelly erinnerte sich an den Mann, den sie vorher erspäht hatte. Doch sie hielt die Augen weiterhin auf Grandma gerichtet – so, wie es der Bewegungsablauf verlangte. Wenn da tatsächlich jemand sein sollte, dann würde JD sie es schon wissen lassen.
    Allerdings nur, wenn er es schaffte, seine Schnauze zur Abwechslung einmal drei Sekunden lang nicht zwischen seinen Hinterläufen zu vergraben.
    » Gut. Nimm alles um dich herum wahr – nicht nur das, was sich unmittelbar vor dir befindet. Benutze dein peripheres Sehen, um über Steine zu laufen. Es ist gar nicht nötig, hinunterzuschauen. Die Augen immer nach vorn gerichtet. Aber nur die Augen, nicht deine gesamte Konzentration.«
    » Ich kann es versuchen.«
    Grandma joggte los, mit JD an ihrer Seite. Kelly folgte ihnen und hielt sich an Grandmas Rat. Tatsächlich – sie war jetzt viel schneller. Sie drehte sich nach dem Mann im Overall um, sah aber nichts als Bäume.
    Kelly lächelte und entspannte sich – zumindest ein bisschen. Die Sommerbrise roch nach Kiefern und wilden Blumen, und sie genoss die Belastung ihrer Oberschenkel und der Muskeln. Es dauerte nicht lange – sie war nicht einmal vernünftig aufgewärmt –, ehe sie einen Höhenkamm erreichten.
    » He«, rief Kelly von hinten. »
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