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Das Hotel New Hampshire

Das Hotel New Hampshire

Titel: Das Hotel New Hampshire
Autoren: John Irving
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sich selbst. Ich glaube, die Holzfäller sind schuld, daß dieser Bär Alkoholprobleme hat. Heute trinkt er zwar nicht - ich erlaube es ihm nicht -, aber er benimmt sich wie einer, der gerne trinken würde, verstehen Sie?«
    Vater verstand nicht. Er fand Freud großartig, und die 37er Indian war das schönste Motorrad, dem er je begegnet war. An freien Tagen fuhr mein Vater mit meiner Mutter die Küstenstraßen entlang, und beide drängten sich in der kühlen salzigen Luft eng aneinander, aber sie waren nie allein: das Motorrad war nicht vom Arbuthnot wegzufahren, ohne daß State o' Maine im Beiwagen saß. Der Bär geriet völlig außer sich, wenn das Motorrad ohne ihn wegfahren wollte; es war der einzige Grund, der den alten Bären zum Laufen bringen konnte. Ein Bär kann überraschend schnell laufen.
    »Los doch, versuchen Sie mal auszureißen«, sagte Freud zu Vater. »Aber ich rate Ihnen, erst mal zu schieben, den Fahrweg hinunter bis zur Straße, und erst dort den Motor anzulassen. Und lassen Sie beim ersten Versuch die arme Mary lieber hier. Sehen Sie zu, daß Sie gut vermummt sind, denn wenn er Sie einholt, wird er Sie ausgiebig betatschen. Er wird nicht wütend sein - nur aufgeregt. Los, versuchen Sie's. Aber wenn Sie sich nach ein paar Kilometern umblicken und er läuft Ihnen immer noch nach, müssen Sie anhalten und ihn zurückbringen. Sonst bekommt er einen Herzschlag, oder er verirrt sich - er ist dermaßen dumm.
    Er kann weder jagen noch sonstwas. Er ist hilflos, wenn man ihn nicht füttert. Er ist ein Spielzeug, kein richtiges Tier mehr. Und er ist nur etwa doppelt so klug wie ein Deutscher Schäferhund. Und das ist nun mal zu wenig für die Welt.«
    »Die Welt?« fragte Lilly dann immer mit staunenden Augen.
    Doch im Sommer 39 war die Welt für meinen Vater neu und herzlich, mit den scheuen Berührungen meiner Mutter, dem Röhren der 37er Indian und dem starken Geruch von State o' Maine, den kalten Nächten von Maine und der Weisheit Freuds.
    Daß er hinkte, war natürlich die Folge eines Motorradunfalls; das Bein war unsachgemäß eingerichtet worden. »Diskriminierung«, behauptete Freud.
    Freud war klein, kräftig, wendig wie ein Tier, von einer seltsamen Hautfarbe (wie eine grüne, durch langsames Kochen fast braun gewordene Olive). Er hatte glänzende schwarze Haare, die in einem merkwürdigen Flecken auch auf seiner Wange wuchsen, unmittelbar unter dem einen Auge: es war ein seidenweiches Haarpolster, größer als die meisten Leberflecke, mindestens so groß wie eine mittlere Münze, auffälliger als jedes Muttermal, und es wirkte in Freuds Gesicht so natürlich wie eine Napfschnecke an einer Felsklippe in Maine.
    »Es kommt daher, daß mein Gehirn so riesig ist«, sagte Freud zu Mutter und Vater. »Mein Gehirn läßt auf dem Schädel nicht genug Platz für Haare, drum werden die Haare eifersüchtig und sprießen dort, wo sie eigentlich nicht hingehören.«
    »Vielleicht war es ein Stück Bärenpelz«, sagte Frank einmal allen Ernstes, und Franny kreischte und schlang mir so heftig die Arme um den Hals, daß ich mir auf die Zunge biß.
    »Frank ist wirklich zu komisch!« rief sie. »Zeig uns mal deinen Bärenpelz, Frank.« Der arme Frank näherte sich damals der Pubertät; er war für sein Alter schon weit entwickelt, und das war ihm sehr peinlich. Aber nicht einmal Franny konnte uns von dem hypnotisierenden Zauber Freuds und seines Bären ablenken; wir Kinder waren ebenso in deren Bann wie mein Vater und meine Mutter damals, im Sommer 1939.
    An manchen Abenden, so erzählte uns Vater, begleitete er Mutter zu ihrer Unterkunft und gab ihr einen Gutenachtkuß.
    Wenn Freud schon schlief, kettete Vater State o' Maine vom Motorrad los und nahm ihm den Maulkorb ab, damit er fressen konnte. Dann ging mein Vater mit dem Bären zum Fischen. Dicht über dem Motorrad hing eine Plane auf Pfählen, die wie ein offenes Zelt State o' Maine vor dem Regen schützte; die Plane bildete am Boden eine Tasche, und darin bewahrte mein Vater für solche Gelegenheiten sein Angelzeug auf.
    Die beiden fuhren immer zum Pier von Bay Point; er lag weiter entfernt als all die Hotelpiers und wimmelte von Hummerfängern und kleinen Fischerbooten. Vater und State o' Maine setzten sich dann am Ende des Stegs hin, und Vater angelte mit einem Blinker am Haken nach Steinköhlern. Mit den lebenden Steinköhlern fütterte er dann State o' Maine. Nur einmal kam es zum Streit zwischen ihnen. Gewöhnlich fing Vater drei oder vier
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