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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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nicht länger leben dürfen? Er, der so reiche Träume hat, warum darf er nicht wachsen, sich erproben, vielleicht sogar etwas werden und seine Umgebung mit seinen Träumen verändern, mit seinem Verlangen nach Schönheit, mit diesen Augen, über die Steinunn in Sléttueyri in ihrem Tagebuch festhielt, es sei »schwer, sie wieder zu vergessen«?
    Er schlägt mit den Armen um sich, er darf nicht leben, unter keinen Umständen, er zappelt mit den Beinen, so war das also, als Papa starb, denkt er, und mir soll es genauso ergehen. Aber ich will nicht sterben, ich will nicht, dass meine Hände zu Quallen werden. Mit solchen Händen tröstet man niemanden. Mama, wo bist du? Hilf mir!
    Kolbeinn ruft dem Jungen etwas zu, und der ruft zurück. Satan in der Hölle!, schreit der alte Mistbock, obwohl es kaum zu verstehen ist, denn sobald er den Mund öffnet, schwappt Meerwasser hinein. Es ist nicht gut, mit einem Fluch auf den Lippen zu sterben, denkt der Junge und versucht sich mit rudernden Armen auf den Alten zuzubewegen, vielleicht um die Einsamkeit zu lindern, denn es ist so schwer, allein zu sterben, aber die Wellen spülen sie aufeinander zu und voneinander weg und nehmen keine Rücksicht auf die Angst und die Einsamkeit des Menschen.
    Verzeih!, ruft der Alte; zumindest scheint er es zu rufen, dieser kratzbürstige alte Sack! Das ist es jedenfalls, was der Junge versteht, und er hofft, dass er es richtig verstanden hat, dass es verzeih heißt und nicht verflucht. Kolbeinn ruft: Verzeih, und die Welt wird plötzlich schöner, die Einsamkeit schwindet, der Junge ruft etwas zurück, was ein Dank sein könnte, ein Abschiedsgruß. Er versucht, den Kopf über Wasser zu halten, aber es fällt ihm immer schwerer, und bald wird es zu schwer, trotzdem hält er sich irgendwie oben, ruft einige Male Kolbeinns Namen, bekommt aber keine Antwort. Er planscht und zappelt, weint ein bisschen, und schreit am Ende in den Himmel: Nichts ohne dich ist süß! Dreimal ruft er es aus vollem Hals wie eine Leuchtrakete, wie einen Gruß, wie eine Liebeserklärung oder nur, um etwas zu hinterlassen, denn bald wird er weg sein, voll und ganz weg, und dann ist nur noch das Meer da mit seinen Wellen, der Regen, der auf seine Oberfläche prasselt, das unförmige Land in der Nähe und doch viel zu weit weg. Er schließt die Augen, er schlägt mit nachlassenden Kräften um sich, macht aber trotzdem weiter, denn es ist unsere Pflicht, solange wir können, gegen den Tod anzukämpfen, nach Möglichkeit noch länger. Die, die gehen, kehren nie zurück, wir haben sie und alles an ihnen vermisst, Augen, Lachen, Gesten, wie sie schliefen, wie sie in Gedanken Löcher in die Luft starrten, wie sie weinten, wie sie küssten und uns berührten, wie sie waren. All das verschwindet im selben Moment, in dem uns der Tod berührt. Verschwindet und kehrt nicht zurück. Genau wie diese beiden verschiedenen Menschen, Kolbeinn und der Junge, sie verschwinden, und es bleibt nichts zurück, bis auf die Oberfläche des Meeres, ein gekentertes Boot, kräftiger Wind, Regen. Was schön war, ist verschwunden. Wo bist du, Leben? Wohin hast du dich verzogen, Gnade?
    Am Ende verwandeln wir uns alle in Schweigen.

Am meisten fehlt uns, am Leben zu sein

Am meisten fehlt uns, am Leben zu sein. Wir haben nicht vergessen, wie es sich anfühlte, den Lebensfunken in der Brust zu haben. Das ist die größte Verwunderung, der wir je begegnet sind: Woher kommt diese Kraft, dieses unermessliche Licht? Sterne funkeln über uns, Vögel fliegen durch uns hindurch, und jetzt haben wir die ganze Geschichte erzählt. Wir haben die Wörter dazu aus der Tiefe des Todes und aus den Weiten des Lebens geholt, Herzen pochten, Wunden öffneten sich, wir haben noch einmal wiederholt, wie sich alles ereignet hat, oder auch nicht, wir haben so lange nach Wörtern gesucht, dass im Grunde nichts mehr von uns übrig ist – jetzt sind wir fast Schweigen. Doch keine Geschichte wird je vollständig erzählt, oder wie lässt es sich anders ausdrücken: Wir atmen im 19. Jahrhundert ein und im 21. aus. Die Zeit ist eine Illusion, die einzig brauchbare Maßeinheit ist das Leben. Der Mensch bleibt sich immer gleich, wie viel Zeit auch vergehen mag, wie viel von dem, was man Jahre nennt, die Mode ändert sich, der Mensch nicht. Am meisten schmerzt es, so kommt es uns vor, nicht mehr am Leben zu sein, außer in diesen Worten, näher kommen wir dem Leben nicht. Der Meeresgrund bewahrt die auf, die hätten leben sollen,
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