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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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Liebe, wohin verschwindet alles, was wir erreicht haben, wo bleiben all die Dinge, die die Welt hell erleuchtet und uns glücklich gemacht haben? Mein lieber Junge, wenn wenigstens du das tun darfst, was wir so gern getan hätten, dann ist vielleicht nicht alles vergeblich gewesen … Ich bin so unsagbar müde. Mein hübscher Junge. Wenn doch nur Lilja wieder aufwachen dürfte. Wo bist du, Gott? Lebe du so viel und gut, wie du nur kannst! Lebe!«
    Kolbeinn hat das Boot ins Wasser geschoben, er stand mit seinen alten Füßen im Wasser und genoss es, sich von dem kalten Salzwasser wie mit Nadeln stechen zu lassen, aber nur am Anfang, dann wurde es ihm rasch zu kalt, und er drehte den blinden Kopf in die Richtung, in der er den Jungen vermutete.
    Bist du gestorben, Bursche, willst du mich hier erfrieren lassen?, fauchte er, stieg dann vorsichtig ins Boot, suchte mit den Füßen das Gleichgewicht, setzte sich, tastete nach den Rudern und murrte dabei etwas über Feigheit, dann fahre er eben allein, das hätte er sich ja gleich denken können.
    In dem Augenblick war der Junge da, packte mit der Rechten die Bootsspitze, während sich die Finger der Linken im Fausthandschuh öffneten und schlossen, als müssten sie nach Luft schnappen. Die Sehnsucht nach den Toten kann uns schwer mitnehmen.
    Das Meer ist gut, sagte Kolbeinn.
    Der Junge rudert, und alles mischt sich mit allem, Luft und Himmel und Regen und Meer, es ist daher nicht leicht auszumachen, ob die Ruderschläge sie weiter aufs Meer hinaustragen oder auf dem Weg zum Himmel in die Luft hinauf oder umgekehrt hinab ins Meer zum Grund, wo alles endet. Er rudert. Er ist mit Kolbeinn allein auf dieser Welt des Zwielichts und der Enttäuschung, und vermutlich traut er sich deshalb, laut zuzugeben, dass er sich keineswegs mehr sicher sei, welchen Kurs sie hielten, denn er könne zwischen Meeresgrund und Regentropfen, Himmel und Dämmerlicht keinen Unterschied mehr erkennen.
    Kolbeinn hockt zusammengekauert im Heck des Kahns, als ob ihm kalt wäre, zwei-, dreimal kommt seine dicke Zunge zwischen den Lippen zum Vorschein wie eine Blindschleiche aus einer dunklen Höhle.
    Den Unterschied sieht man nur selten, sagt er schließlich. Es gibt nur wenige, die nach ihm fragen, und noch weniger, die ihn kennen wollen.
    Der Junge guckt so gedankenverloren vor sich hin, dass er das Rudern einstellt.
    Ruder weiter, sonst ersticke ich, fordert ihn Kolbeinn auf.
    Entschuldige, sagt der Junge und rudert, damit Kolbeinn Luft bekommt, obwohl manchmal kaum einzusehen ist, wozu das gut sein soll.
    Jetzt verstehe ich, sagt der Junge.
    Ein Idiot würde dich beglückwünschen, ein Weiser dir sein Beileid ausdrücken. Ich bin weder das eine noch das andere, sagt Kolbeinn.
    Was?, fragt der Junge.
    Kolbeinn: Es hat wohl kaum jemand die Augen dazu, dem Verstehen ins Auge zu blicken. Nur wenige Augen halten das aus.
    Der Junge: Bist du deswegen blind?
    Man könnte fast seine Freude an dir haben, sagt der Steinbeißer, räuspert sich, spuckt aus, schafft es aber nicht über die Bordwand. Was verstehst du denn?, fragt er, als der Junge einfach weiter in Richtung des Unbegreiflichen rudert.
    Das, was Kjartan mir im Frühjahr erklärt hat, dass Männer wie Kierkegaard gefährlich seien, weil sie uns zweifeln lassen und sogar die Welt ganz neu denken.
    Kolbeinn: Der kann denken.
    Der Junge: Kierkegaard?
    Kolbeinn: Séra Kjartan.
    Der Junge: Und trotzdem geht es ihm nicht gut. Gísli auch nicht. Und selbst Geirþrúður geht es nicht gut, obwohl niemand größer ist als sie.
    Kolbeinns tote Augen sind auf den Regen und die Dämmerung gerichtet.
    Es reicht nicht, zu denken, es reicht nicht, zu verstehen, sagt er und leckt sich über die Lippen, um das Salz des Meeres zu schmecken.
    Nein, sagt oder fragt der Junge.
    Wahrscheinlich sind sie aus dieser Welt in eine andere gerudert, in der Kolbeinn redet.
    Du musst mit dem, was du siehst und verstehst, auch leben können, aber das erfordert mehr Mut und Durchhaltevermögen, als die meisten aufbringen können, und darum holt uns das Unglück ein. Man sollte längst tot sein.
    Da nimmt der Junge das Rudern wieder auf. Entschlossen rudert er Richtung Meeresgrund, Regentropfen, Himmel, rudert in die Richtung, die es vielleicht gar nicht gibt. Das Boot kommt voran, es regnet, zwischen den Tropfen ist es dunkel, und der Junge rudert schnell, sehr schnell, es ist praktisch mit der Wut, die einem alle Vernunft und jegliche Wahrnehmung raubt, er ist schweißnass und
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