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Das Herz der Nacht

Das Herz der Nacht

Titel: Das Herz der Nacht
Autoren: Ulrike Schweikert
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zu entkommen!«
    András verband das Geschirr des Gespanns wieder mit der Deichsel und kroch dann auf allen vieren in die Kutsche, in die Dunkelheit des Kastens unter der Bank, der ihn bereits auf ihrer Fahrt von Wien nach Hamburg vor den tödlichen Strahlen der Sonne beschützt hatte.
    Das Feuer ließ sich nicht aufhalten. Die Hamburger hatten ihr Rathaus umsonst geopfert. Als Nächstes nahm es sich die prächtigen Häuser am Jungfernstieg. Die alten Linden entlang der Uferpromenade verloren ihre Blätter und färbten sich schwarz. Die Menschen versuchten in Booten wenigstens einen Teil ihrer Habe über die Alster in Sicherheit zu bringen, doch der Wind kannte keine Gnade. Er stieß fauchend zwischen die hölzernen Gefährte und setzte viele mit seinem Glutwirbel in Brand. Sie sanken. Die Glücklichen unter den Fliehenden kamen mit dem nackten Leben davon.
    Dann drehte der Wind und sah sich gierig nach neuer Beute um. Während die Viertel am Gänsemarkt und am westlichen Ufer der Alster ungeschoren davonkamen, fraß sich der Brand nun in breiter Front am östlichen Ufer weiter. St. Petri ging in Flammen auf. Das Zuchthaus und das Armenhaus am Oberdamm mussten evakuiert werden. Vergeblich versuchten die Feuerwehrleute die Gebäude zu sprengen. Sie brannten ebenso nieder wie der Marstall. Während die meisten der Einsatzleute an der Ostfront kämpften, versuchten Spritzenmeister Claasen und seine Männer zu verhindern, dass das Feuer im Süden vorankam und sich über das Viertel von St. Jakobi hermachte.
    »Claasen, Sie müssen sich mit ihren Männern für eine Weile zurückziehen«, befahl der Kommandant. »Sie sind nun mehr als dreißig Stunden auf den Beinen. Ruhen Sie sich aus, essen Sie und schlafen Sie einige Stunden. Überlassen Sie ihre Position hier der Truppe aus Bergedorf.«
    Spritzenmeister Claasen schwankte vor Erschöpfung, schüttelte aber den Kopf. »Wir werden hier gebraucht. Es ist noch nicht zu Ende. Wenn das Feuer besiegt ist, haben wir genug Zeit zu essen und zu schlafen.«
    Der Kommandant ließ nicht locker. »Es hilft keinem, wenn Sie oder Ihre Männer zusammenbrechen und noch mehr Menschen zu Tode kommen, weil die Erschöpfung Ihnen die Aufmerksamkeit raubt. Ziehen Sie sich zurück!«
    »Und wohin? Viele meiner Männer haben keine Wohnung mehr, in der sie Ruhe finden könnten. Das Feuer hat ihnen alles genommen.«
    Aber der Kommandant hatte sich bereits abgewandt und gab der Truppe aus Bergedorf ihre Anweisungen.
    Claasen sah noch einige Augenblick zu ihm hinüber, dann entließ er seine Männer mit dem Befehl, zu ruhen und sich zu stärken und sich in sechs Stunden wieder einzufinden.
    Claasen wandte sich ab und überlegte, wohin er gehen sollte. Sein Haus gab es nicht mehr. Seine Frau und die Kinder waren zu ihrer Schwester nach Flottbek geflohen. Er beschloss gerade, sich auf den Weg zu machen, als er innehielt und sich die Augen rieb. Was um alles in der Welt war denn das?
    Die aufgehende Sonne beleuchtete eine Kutsche mit vier schwarzen Pferden, die über die Trümmer des gesprengten Rathauses hinweg auf ihn zu holperte. Der Kutschbock war verwaist, doch auf einem der Vorauspferde saß ein Mädchen von etwa zehn Jahren. Das Gesicht von Tränen verschmiert, die Hände in die Mähne das Rappen verkrallt.
    Claasen trat den Pferden in den Weg und griff in ihr Geschirr.
    »Wer bist du und wo willst du hin, mein Kind?«
    Das Mädchen wandte ihm das bleiche Gesicht zu. Ihr Blick blieb in die Ferne gerichtet.
    »Sophie. Ich heiße Sophie, und ich muss nach Blankenese, zum Baurs Park, aber ich kann den Weg nicht sehen, und ich glaube nicht, dass die Pferde ihn allein finden können. Ich weiß nicht, wohin. Es brennt überall, und ich höre die Häuser zusammenstürzen und uns den Weg versperren.«
    Die Verzweiflung rührte ihn. Claasen tätschelte ihr beruhigend die Hand. »Beruhige dich, Sophie. Du hast es überstanden.«
    »Nein, ich muss zu dem Haus im Baurs Park«, wiederholte das Kind drängend. »Gorans Bruder wartet dort. Er wird wissen, was zu tun ist. Nur er kann ihn retten!«
    Claasen wurde aus den Worten des Mädchens nicht recht schlau. Nur so viel verstand er, dass das Kind anscheinend blind war und dass in Blankenese Menschen lebten, die sich ihrer annehmen konnten.
    »Ich bin Spritzenmeister Claasen«, stellte er sich vor. »Lass die Mähne des Pferdes los, Sophie, und komm mit mir auf den Kutschbock. Ich bringe dich zum Baurs Park.«
    Sie schlugen einen großen Bogen und ließen die
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