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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Autoren: John Boyne
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Märchen vorlesen zu lassen.
    Michael achtet darauf, dass er seine Großmutter alle paar Tage im Krankenhaus besucht; er ist da sehr gewissenhaft. Er verbringt etwa eine Stunde bei ihr, und anschließend schaut er bei mir vorbei, um mir etwas vorzuflunkern, um mir zu erzählen, wie viel besser sie inzwischen aussehe, dass sie für einige Augenblicke wach gewesen sei und sich aufgesetzt habe, um mit ihm zu reden, dass sie bei klarem Verstand und praktisch wieder ihr altes Ich gewesen sei und dass er felsenfest glaube, Soja werde es über kurz oder lang so gut gehen, dass sie nach Hause zurückkehren könne. Mitunter frage ich mich, ob er dies tatsächlich glaubt und mich für so dumm hält, ihm dies abzukaufen, oder ob er meint, er tue mir einen großen Gefallen, wenn er mir so herrliche, unrealistische Flausen in meinen törichten alten Kopf setzt. Junge Leute sind so respektlos gegenüber den Älteren, vielleicht nicht mit Absicht, sondern bloß deshalb, weil sie nicht glauben wollen, dass unsere Gehirne noch immer funktionieren. Aber wie dem auch sei, wir inszenieren diese gemeinsame Farce zwei- oder dreimal die Woche. Er erzählt mir all diese Dinge, ich pflichte ihm bei, wir schmieden Pläne, was wir drei – wir vier – unternehmen könnten, wenn Soja wieder auf dem Damm ist. Dann wirft er einen Blick auf seine Uhr und scheint überrascht, wie spät es geworden ist. Er küsst mich schnell auf die Stirn, sagt, »Also dann bis übermorgen, Pops, ruf mich an, wenn du was brauchst«, und, schwupp, ist er durch die Tür hindurch, springt auf seinen langen, schlanken, muskulösen Beinen die Stufen empor und schwingt sich fast noch im selben Augenblick auf die hintere Plattform eines vorbeifahrenden Doppeldeckers, alles binnen nur einer Minute.
    Manchmal beneide ich ihn um seine Jugend, aber ich versuche, nicht groß darüber nachzudenken. Ein alter Mann sollte keinen Groll gegen diejenigen hegen, die einmal an seine Stelle treten werden – und sich an die Zeiten zurückzuerinnern, als man noch gesund, jung und kräftig war, ist ein nutzloser Akt des Masochismus. Auch wenn Soja und ich noch immer am Leben sind, kommt es mir so vor, als wäre ich bereits tot. Sie wird mir schon bald genommen werden, und es wird für mich keinen Grund geben, ohne sie weiterzumachen. Wir sind eine Person, verstehen Sie? Wir sind GeorgiundSoja.
    Sojas Ärztin heißt Joan Crawford. Das ist kein Witz! Als wir einander vorgestellt wurden, kam ich nicht umhin, mich zu fragen, warum ihre Eltern sie mit diesem Namen belastet hatten. Oder war er vielleicht das Resultat ihrer Heirat? Hatte sie sich in den richtigen Mann verliebt, der aber leider den falschen Namen hatte? Natürlich verlor ich kein Wort über diese Koinzidenz. Ich bin mir sicher, sie hat sich deswegen ihr Leben lang dumme Bemerkungen anhören müssen. Wie es der Zufall will, hat sie sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit der berühmten Schauspielerin: Sie trägt das gleiche dichte, dunkle Haar zur Schau und die gleichen leicht gewölbten Augenbrauen, und angesichts der Art und Weise, wie sie sich präsentiert, hege ich den Verdacht, dass sie bewusst zu diesem Vergleich animiert – über die Frage, ob sie ihre Kinder ebenfalls mit Drahtkleiderbügeln züchtigt, kann man natürlich nur Mutmaßungen anstellen. Für gewöhnlich trägt sie einen Ehering, doch hin und wieder fehlt dieser an ihrer Hand. Ist Letzteres der Fall, macht sie auf mich immer einen abwesenden, irgendwie bedrückten Eindruck, und dann frage ich mich, ob sie vielleicht von ihrem Privatleben enttäuscht ist.
    Seit fast zwei Wochen habe ich nicht mehr mit Dr. Crawford gesprochen, und bevor ich heute bei Soja hereinschaue, wandere ich deshalb durch die weiß getünchten, antiseptisch riechenden Flure, um nach ihrem Büro zu suchen. Natürlich bin ich dort schon einige Male gewesen, doch ich finde mich nur schwer in der onkologischen Abteilung zurecht. Das ganze Krankenhaus ist ein Labyrinth, und unter den jungen Männern und Frauen, die an mir vorüberhasten und im Laufen Klemmbretter konsultieren oder Fieberkurven überfliegen und dabei in Äpfel oder halbe Sandwiches beißen, scheint es niemanden zu geben, der bereit wäre, mir den Weg zu weisen. Doch irgendwann stehe ich vor ihrer Tür und klopfe sacht an. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, bis sie antwortet – ein gereiztes Ja? –, und daraufhin öffne ich die Tür, allerdings nur einen Spalt weit, und lächle entschuldigend, in der Hoffnung, sie mit meiner
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