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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Autoren: John Boyne
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denke, sie hätte besser an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit gelebt. Sie hätte ein sehr erfolgreiches Leben führen können.
    »Aber wo ist diese andere Welt?«, fragte ich sie, als wir beide am Herd in der Ecke unserer kleinen Hütte saßen, einem Raum, der unserer sechsköpfigen Familie gleichzeitig als Schlafzimmer, Küche und Wohnzimmer diente. Es war etwa die Tageszeit, zu der unsere Mutter und unser Vater von ihrer Arbeit nach Hause zurückkehrten und erwarteten, dass wir für sie etwas zu essen vorbereitet hatten – andernfalls setzte es eine Tracht Prügel. Und so verrührte Asja Kartoffeln, Gemüse und Wasser in einem Topf zu einer sämigen Suppe, die als unser Abendessen herhalten musste. Liska war draußen und richtete irgendwo Schaden an, etwas, wofür sie eine besondere Begabung besaß. Talya, ein von Natur aus stilles Kind, lag in einem Nest aus Stroh und spielte mit ihren Fingern und Zehen, wobei sie uns beharrlich beobachtete.
    »Weit weg von hier, Georgi«, erwiderte Asja, während sie vorsichtig einen Finger in den Schaum des brodelnden Eintopfs tunkte, um davon zu kosten. »Aber die Menschen leben dort nicht so, wie wir hier leben.«
    »Ach, wirklich?«, fragte ich, unfähig, mir eine andere Lebensweise auch nur vorzustellen. »Ja, wie leben sie denn?«
    »Nun, einige von ihnen sind natürlich arm, so wie wir«, räumte sie ein, in einem fast schon entschuldigenden Tonfall, so als wären unsere Lebensumstände etwas, für das wir uns alle schämen müssten. »Aber die meisten leben in Saus und Braus. Es sind die Menschen, die unser Land groß machen. Ihre Häuser sind aus Stein gebaut, nicht, so wie unseres, aus Holz. Sie essen, wann immer sie essen wollen, von Tellern, die mit Edelsteinen besetzt sind. Ein Essen, das eigens von Köchen zubereitet wird, die ihr ganzes Leben damit verbringen, ihre Kunst zu vervollkommnen. Und die Damen, die reisen nur per Kutsche.«
    »Kutsche?«, fragte ich, wobei ich die Nase kräuselte, als ich sie ansah, unsicher, was die Bedeutung des Wortes betraf. »Was ist das?«
    »Die werden von Pferden gezogen«, erklärte sie mit einem Seufzer, so als sei meine Unwissenheit einzig und allein dazu bestimmt, sie zu entnerven. »Die sind wie … oh, wie soll ich das nur erklären? Stell dir eine Hütte mit Rädern vor, in der Leute sitzen können, um sich bequem von einem Ort zum andern befördern zu lassen. Kannst du dir das vorstellen, Georgi?«
    »Nein«, sagte ich mit Nachdruck, denn diese Vorstellung schien mir absurd und zugleich beängstigend. Ich wandte den Blick von ihr ab und spürte, wie sich mein Magen vor Hunger zusammenzog. Ich fragte mich, ob sie mir wohl ein oder zwei Löffel von dieser Suppe gestatten würde, bevor unsere Eltern nach Hause kamen.
    »Eines Tages werde ich auch in so einer Kutsche reisen«, fügte sie ruhig hinzu, wobei sie in das Feuer unter dem Topf starrte und mit einem Stock darin herumstocherte, vielleicht in der Hoffnung, ein kleines Stück Kohle oder ein Holzscheit zu finden, das noch nicht Feuer gefangen hatte und dazu gebracht werden konnte, uns noch ein paar weitere Minuten Hitze zu bescheren. »Ich habe nicht vor, für immer in Kaschin zu bleiben.«
    Ich schüttelte den Kopf vor Bewunderung für sie. Sie war der intelligenteste Mensch, den ich kannte, denn ihre Kenntnis von diesen anderen Welten und Lebensumständen verblüffte mich. Ich denke, es war Asjas Wissensdurst, der meine Fantasie zunehmend beflügelte und in mir den Wunsch weckte, mehr von der Welt kennenlernen zu wollen. Woher sie von all diesen Dingen wusste, konnte ich mir nicht erklären, doch der Gedanke, Asja könnte mir eines Tages genommen werden, stimmte mich traurig. Es verletzte mich, dass sie auch nur daran denken konnte, ein anderes Leben zu suchen, eines, das jenseits des Lebens lag, das wir gemeinsam teilten. Kaschin war ein finsteres, elendes, stinkendes, erbärmliches, trostloses Drecknest von einem Dorf – natürlich war es das. Doch bis dahin wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, das Leben anderswo könnte besser sein. Ich war ja nie weiter als ein paar Kilometer über Kaschins Ortsgrenzen hinausgekommen.
    »Das darfst du keinem erzählen, Georgi«, sagte sie einen Augenblick später und lehnte sich aufgeregt vor, so als wollte sie mir gleich ihr größtes Geheimnis anvertrauen, »aber wenn ich älter bin, werde ich nach St. Petersburg ziehen. Ich habe mir fest vorgenommen, einmal dort zu leben.« Ihre Stimme wurde lebhafter, und sie
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