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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Autoren: John Boyne
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hast dein ganzes Leben hier in Kaschin verbracht und den Boden beackert, Kascha gegessen und Kwass getrunken, und trotzdem hast du noch immer diese Flausen im Kopf. Du wirst dich wohl nie ändern, oder?«
    »Und du bist dein ganzes Leben lang damit zufrieden gewesen, ein Muschik zu sein«, sagte Boris erzürnt. »Ja, wir bestellen das Land und verdienen uns so auf ehrliche Weise unseren Lebensunterhalt, aber sind wir nicht auch Menschen wie der Zar? Warum soll ihm alles gehören? Warum soll er auf alles einen Anspruch haben, alles besitzen, während wir unsere Tage in Armut und Elend verbringen? Du betest noch immer jeden Abend für ihn, nicht wahr?«
    »Ja, natürlich«, sagte mein Vater, nunmehr in einem gereizten Tonfall, denn es ging ihm gegen den Strich, in ein Gespräch verwickelt zu werden, in dem der Zar kritisiert wurde. Von früh an hatte man ihm eine Servilität eingeimpft, die ihm schließlich in Fleisch und Blut übergegangen war. »Russlands Schicksal ist untrennbar mit dem des Zaren verknüpft. Führe dir nur einen Moment lang vor Augen, wie weit diese Dynastie zurückreicht. Bis zu Zar Michail! Das sind mehr als dreihundert Jahre, Boris!«
    »Dreihundert Jahre Romanows sind dreihundert Jahre zu viel«, brüllte sein Freund, räusperte sich kräftig, bis er einen Mund voll Schleim zusammen hatte, und spuckte diesen dann ungeniert auf den Boden zwischen seinen Füßen. »Und verrat mir mal, was wir in all dieser Zeit von denen bekommen haben? Irgendwas von Wert? Ach wo! Eines Tages … eines Tages, Daniil …« An dieser Stelle hielt er inne. Boris Alexandrowitsch konnte sich so radikal und revolutionär gebärden, wie er wollte, doch es wäre eine Häresie, ja womöglich sein Todesurteil gewesen, hätte er den Satz vollendet.
    Trotzdem gab es in unserem Dorf nicht einen Menschen, der nicht gewusst hätte, wie der Rest des Satzes gelautet hätte – und es gab viele, die der gleichen Ansicht waren wie Boris Alexandrowitsch.
    Kolek Borisowitsch und ich sprachen natürlich nie über Politik. Solche Dinge bedeuteten uns beiden nichts, als wir Kinder waren. Wir spielten lieber die Spiele, die Jungen so spielen, handelten uns den Ärger ein, den Jungen sich so einhandeln, wir lachten und wir gerieten uns in die Haare, doch wir waren so viel zusammen, dass Fremde, die durch unser Dorf kamen, uns womöglich für Brüder gehalten hätten, wäre da nicht dieser auffällige Unterschied in unserer äußeren Erscheinung gewesen.
    Als Kind war ich von kleiner Statur und mit einem Schopf blonder Ringellöckchen gestraft, ein Sachverhalt, der vielleicht der Grund für die Verachtung war, mit der mein Vater mir begegnete. Er hatte sich einen Stammhalter gewünscht, der seinen Namen weitervererbte, und ich sah nicht so aus wie die Sorte von Junge, die diese Aufgabe zu bewältigen vermochte. Im Alter von sechs Jahren war ich einen Kopf kleiner als alle meine Freunde, was mir den Spitznamen Pascha einbrachte, »der Kleine«. Wegen meiner blonden Locken bezeichneten mich meine großen Schwestern als das hübscheste Mitglied unserer Familie. Sie putzten mich heraus, mit Bändern, Schleifen und ähnlichen Accessoires, was meinen Vater dermaßen in Rage versetzte, dass er sie anbrüllte und mir die Girlanden vom Kopf fetzte, wobei er mitunter auch das eine oder andere Haarbüschel herausriss. Und trotz unserer kargen Kost neigte ich als Kind zur Dickleibigkeit, was mein Vater als einen persönlichen Affront betrachtete.
    Kolek hingegen war immer groß für sein Alter, ein schlanker, kräftiger und, auf eine sehr maskuline Weise, gut aussehender Junge. Als er zehn war, beäugten ihn die Mädchen in unserem Dorf mit anerkennenden Blicken, wobei sie sich fragten, wie er sich wohl in einigen Jahren entwickelt haben mochte, wenn er das Mannesalter erreichte. Ihre Mütter wetteiferten um die Gunst seiner Mutter, einer schüchternen Person namens Anja Petrowna. Da man sich ziemlich sicher war, dass er eines Tages ein großer Mann sein und unserem Dorf Ruhm und Ehre einbringen würde, war es der sehnlichste Wunsch jeder Mutter, Kolek möge ihre Tochter eines Tages als Braut nach Hause führen.
    Natürlich genoss er die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde. Er war sich der auf ihn gerichteten Blicke mehr als bewusst, ebenso wie der Bewunderung, die ihm allgemein entgegengebracht wurde, doch auch er hatte sich verliebt, und zwar in keine Geringere als meine Schwester Asja. Sie war der einzige Mensch, der ihn dazu bringen konnte, dass
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