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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus
Autoren: Kai Meyer
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siebzehntes Carceri-Motiv!
    »Sag was«, forderte die Shuvani ihn auf, aber Coralina warf ihr einen mahnenden Blick zu und die Andeutung eines Kopfschütteins.
    Er schaute die junge Roma eindringlich an. »Und keiner hat gesehen, daß du sie aus der Kirche getragen hast?«
    »Keiner.«
    »Ganz sicher?«
    »Meine Güte, Jupiter! Du solltest dich mal hören!«
    »Warum hast du mir nicht sofort davon erzählt?«
    »Das hätte ich wahrscheinlich, wenn du nicht gleich so ablehnend reagiert hättest.« Sie schaute auf die Platte, schien die Oberfläche regelrecht mit ihrem Blick zu streicheln. »Und du hattest recht, was die sechzehn bekannten Motive angeht. Aber dieses hier …« Kopfschüttelnd brach sie ab. Ihre Stimme verebbte, als würden ihr die Worte ausgehen.
    Jupiter spürte in sich eine Erregung, die er so seit vielen Monaten nicht mehr gefühlt hatte. Etwas kehrte zurück, ein Teil seiner selbst, von dem er angenommen hatte, Miwa habe ihn mit all seinen anderen Sachen in einen Karton gepackt und fortgetragen. Aber er hatte sich getäuscht. Der alte Instinkt war noch da. Er erkannte noch immer, wenn er auf etwas wirklich Großes stieß. Und genau das war es, was jetzt vor seinen Füßen lag. Etwas so verflucht Großes, daß die Erkenntnis ihm schier den Atem raubte.
    »Okay«, sagte er, bemüht, seine Fassung zurückzuerlangen. Profi sein, dachte er. Endlich wieder Profi sein. »Ihr habt niemandem davon erzählt, nehme ich an.«
    »Natürlich nicht.«
    Er nickte gedankenverloren und betrachtete die Platte genauer. Auf den ersten Blick hätte es eines der sechzehn bekannten Motive sein können. Eine Halle, so hoch, daß sich die Decke im Schatten verlor, durchzogen von Brücken aus Holz und Stein, bevölkert von verschrobenen, einsamen Gestalten. Ketten im Vorder-und Hintergrund. Ummauerte Gruben, die sich im Boden öffneten wie überdimensionale Brunnenschächte. Zweiflügelige Portale, breit genug, um eine Armee einzulassen. Und im Zentrum eine Art unterirdischer Fluß, eher noch ein Kanal mit gemauerten Ufern, der sich von rechts nach links durchs Bild zog.
    In der Mitte des Wasserlaufs erhob sich ein Felsquader. Darauf stand ein Obelisk, so symmetrisch, daß seine breite Vorderseite exakt zum Betrachter wies. Etwas war in seine Oberfläche geritzt, eine Form, die Jupiter zunächst nicht zuordnen konnte, weil sie nicht zur Umgebung paßte. Erst als sein Geist ihn zwang zu abstrahieren und sich aus dieser imaginären Kerkerwelt zu lösen, erkannte er, worum es sich handelte.
    Es war ein Schlüssel. Genauer noch, der handgroße Scherenschnitt eines Schlüssels.
    »Das ist noch nicht alles«, sagte Coralina und öffnete die Kiste, unter der sie die Kupferplatte versteckt hatte. Sie griff hinein und. holte einen schmalen Lederbeutel heraus, aus dem gleichen Material wie die Verpackung der Platten und oben mit einer Schnur zusammengezurrt.
    Jupiter nahm den Beutel und wog ihn in der Hand. »Was ist das?«
    »Er steckte in derselben Mauerspalte wie die Platte«, erklärte Coralina. »Ich hab alle anderen Nischen durchsucht, aber das hier war der einzige.«
    Jupiter öffnete den Beutel und leerte den Inhalt auf seine Hand.
    »Eine Tonscherbe?« fragte er irritiert.
    Coralina nickte. »Schau sie dir genauer an.«
    Die Scherbe war dreieckig, mit zwei geraden, scharfen Bruchstellen und einer abgerundeten Seite; die Form verriet, daß sie Teil eines runden Gegenstands gewesen war, eines Tellers oder … da die Oberfläche nicht gewölbt war … einer Scheibe. Sie war unwesentlich kleiner als Jupiters Handfläche und bestand aus gebranntem, schokoladenbraunem Ton. Als das Material noch feucht gewesen war, hatte man mit primitiven Stempeln Hieroglyphen hineingedrückt, deren Vertiefungen mit einer hellen Glasur ausgefüllt waren. Jupiter erkannte archaische Darstellungen eines Fischs, einer menschlichen Gestalt und eines Auges. Die übrigen Zeichen ähnelten eher den Kritzeleien eines Kindes: Dreiecke, Winkel, Spiralen und Kreise.
    Zwischen den großen Symbolen gab es eine zweite Reihe von Zeichen, viel kleiner und ziselierter, als hätte sie jemand nachträglich mit einem spitzen Gegenstand in den gebrannten Ton gekratzt. Auch hierbei handelte es sich augenscheinlich um Symbole, wenn auch nicht ganz so primitiv, eher wie Fragmente einer unleserlichen Schmuckschrift.
    Jupiter hatte bereits zahllose Hieroglypheninschriften gesehen, und diese hier unterschied sich kaum von irgendeiner anderen, obgleich er sie auf den ersten
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