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Das Haus der Bronskis

Das Haus der Bronskis

Titel: Das Haus der Bronskis
Autoren: Philip Marsden
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schlief wenig. Gegen Mitternacht verließ sie das Haus und wanderte die Hauptstraße auf und ab. Ein stetiger Wind jagte die Wolken über den Mond. Apfelduft lag in der Luft und Staub von Pilzsporen. Der Herbst hatte die Trägheit des Sommers besiegt, und Helena dachte an Mantuski. Immer hatte sie den September und seine Ruhe geliebt, die länger werdenden Nächte, die statthafte Traurigkeit. In diesem Moment fühlte sie sich merkwürdig kräftig. Das Unvermeidliche, hatte sie in den letzten Stunden begriffen, würde seinen Lauf nehmen. Sie hatte getan, was sie konnte.
    Der Morgen begann kurz nach sechs. Helena schlief noch auf dem Fußboden, als sie die ersten Granaten auf Orany fallen hörte. Panzer rollten durch die Bäume heran.
    Helena erhob sich schnell. »Nur einen Wagen, Zosia, schirr die beiden Füchse an. Ich wecke die anderen.«
    Auf der Straße kamen die Kampfgeräusche immer näher. Die Pferde hatten einen knappen Kilometer zu laufen, bevor die Straße zur Grenze abfiel. Sie hörten jetzt Gewehrschüsse und die Stimmen von Männern zwischen den Bäumen. Vor ihnen brach plötzlich eine Gruppe polnischer Soldaten aus der Deckung, rannte über die Straße und verschwand in der Schlucht. Helena trieb die Pferde zu einem leichten Galopp an.
    Zwischen den Bäumen tauchte eine russische Einheit auf. Einen Augenblick lang schienen die Männer verwirrt; sie blickten sich auf der Straße um. Dann sahen sie das Fuhrwerk und eröffneten das Feuer. Die Kugeln surrten um sie wie Hornissen; eine schlug in eine Seitenwand ein und ließ sie splittern. Dann wand sich die Straße linkerHand in die Schlucht hinunter. Helena blickte nicht zurück. Sie sah die Brücke und das Wachhaus dahinter und einen Panzerspähwagen. Sie hielt auf die Brücke zu; wenn die Wachen auf sie schossen, dachte sie, dann sollte es eben so sein. Besser sie als die Russen.
    Der Offizier winkte hektisch.
    Neben ihm hatte seine Abteilung die Gewehre angelegt. Weiter oben in der Schlucht hatten die polnischen Soldaten wieder Stellung bezogen. Eine Granate fiel in ihrer Nähe ins Wasser; sie flohen flußabwärts um einen Felsvorsprung herum und waren außer Sicht.
    »Madame Brońska!« Der Offizier trat ein paar Schritte vor.
    Sie fuhr weiter auf die Wachsoldaten zu, doch die feuerten nicht. Der Offizier winkte ihr, und sie hielt auf seiner Höhe an. »Die Depesche«, sagte er. »Die Depesche kam letzte Nacht durch, vom Präsidenten.«
    Die Abteilung schloß sich hinter dem Wagen, und die Brońskis waren in Litauen.
     
    »Sie war mutig wie eine Löwin! Himmel, wenn ich jetzt daran denke, scheint mir Mamas Mut ganz un-gel-aublich!«
    In Weißrußland, kurz nachdem wir in Mantuski gewesen waren, erzählte mir Zofia, was sie von der Flucht noch wußte. Es war ein weit weniger detaillierter Bericht als der ihrer Mutter. Sie sagte, sie sei damals noch »zu jung und zu töricht« gewesen, um Angst zu haben. Es hatte nur einen Augenblick gegeben, der sie wirklich erschreckt hatte.
    Sie fuhren durch ein Dorf. Es war spätabends. Sie hatten keine Ahnung, ob es ein freundlich gesinntes Dorf war oder nicht, darum ließen sie die Pferde kantern. Zofia war allein im letzten Wagen. Auf einmal zerrte etwas an ihrenZügeln, und ein Pferd wurde langsamer. Sie sah sich von zwei oder drei Männern bedrängt.
    »Ich hatte ein Gewehr und habe damit herumgefuchtelt. Ich habe die Pferde angefeuert und die Zügel geschüttelt. Irgendwie sind wir freigekommen.« Sie hielt inne. »Aber wenn uns eins wirklich gerettet hat, dann war es jener Priester aus Lipniszki. Was wohl aus ihm geworden ist?«
    Am nächsten Morgen fuhren wir nach Lipniszki. Die Kirche stand, etwas zurückgesetzt, am Hauptplatz. Sie hatte einen hohen Turm und einen Kirchhof, dessen wucherndes Grün die mangelnde Nutzung verriet. Außerhalb davon stand eine Hütte, und auf der Veranda döste ein alter Mann.
    Er wachte auf, als wir ihn ansprachen, und sein spatenförmiger weißer Bart hob sich von seiner Brust. »Vater Jarosław?« Der Alte nickte und führte uns auf den Kirchhof zurück. Vater Jarosław! Er deutete auf ein säuberlich gepflegtes Grab nahe dem Zaun.
    Der Priester, stellte sich heraus, hatte gleichfalls Litauen erreicht und dort mehrere Jahre verbracht. 1944, während der deutschen Besetzung, war er mit der Monstranz nach Lipniszki zurückgekehrt und hatte sein Amt wiederaufgenommen. Im Ort herrschte eine Typhusepidemie, und er besuchte unermüdlich die Kranken.
    Die Stimme des Alten senkte sich
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