Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus an der Klippe

Das Haus an der Klippe

Titel: Das Haus an der Klippe
Autoren: Reginald Hill
Vom Netzwerk:
nach unten.
    Er wußte, daß die felsige Klippe mindestens 25 Meter steil zu einer kleinen, kiesbedeckten Bucht hin abfiel. Doch nun war es, als schaute man in den Höllenschlund, wo Pyriphlegetons brennende Wellen mit ihren phosphoreszierenden Schaumkronen tief in die Dunkelheit des bejammernswerten Acheron dringen.
    Da unten konnte es kein Leben geben, keines jedenfalls, das auf Licht und Luft angewiesen war, und er zog sich schon zurück, um den Wachmann zurechtzustutzen, als der Wind plötzlich ein riesiges Loch in die Wolkendecke riß und der Vollmond die Szenerie wie mit tausend Laternen beleuchtete.
    Jetzt sah er es, obwohl er kaum glauben konnte, was er da sah.
    Die Wellen hatten sich gerade zurückgezogen, um die Gestalt eines Mannes freizugeben, der aus dem Meer gekrochen kam. Schon trieb der Sturm die nächste Wasserwand heran, die den Mann unter sich begrub. Unmöglich, das zu überleben, dachte er. Doch als das Meer wieder zurückwich, war er immer noch da, Hände und Füße tief im Kies vergraben. Und in den wenigen Sekunden, die ihm der Rückzug des Wassers gewährte, kroch der Mann wieder ein Stückchen vorwärts, bevor er seine Anker erneut in den Grund sinken ließ.
    Manchmal war der Sog des zurückströmenden Wassers zu stark oder seine Verankerung zu schwach, so daß die liegende Gestalt wieder genauso weit zurückgetragen wurde, wie sie vorangekommen war. Aber immer, wenn man schon dachte, der Ozean müsse nun tief in seine Lungen eingedrungen sein oder die rasiermesserscharfen Kiesel müßten ihm die Brust zerrissen haben, stemmte sie sich wieder ein Stückchen vorwärts.
    »Das schafft er nie«, sagte der Posten voller Überzeugung. Der Hauptmann sah sich die Sache noch eine Weile an und sagte dann: »Sechs zu vier, daß er es schafft. In Gold.«
    Der alte Soldat blickte hinunter aufs Meer, das gerade mit einer beinahe übernatürlichen Wut den menschlichen Körper am Strand packte. Es sah wie eine absolut sichere Wette aus, aber er hatte große Achtung vor dem Urteilsvermögen des Hauptmanns.
    »Silber«, schlug er als Kompromiß vor.
    Sie nahmen die Beobachtung auf.
    Es dauerte eine halbe Stunde, bis der Hauptmann seine Wette gewonnen hatte, denn schließlich hatte sich der Mann tatsächlich kriechend bis an den Fuß der Klippe herangearbeitet, wo einige Felsblöcke einen Schutzwall bildeten, gegen den das Meer vergebens seine turmhohen Brecher schleuderte. Eine Weile blieb er hier liegen, immer noch von Zeit zu Zeit vom Wasser umspült, doch nicht mehr länger in Gefahr, zerschmettert oder in die Tiefen zurückgezogen zu werden. Dann, genau in dem Moment, als der Wachposten schon hoffte, der Mann wäre tot und er hätte die Wette vielleicht doch gewonnen, saß er plötzlich aufrecht.
    »Der Hund ist wohl aus Bronze und Bärenhaut gemacht«, sagte die Wache mit widerstrebender Bewunderung. »Was beim Hades hat er nun vor?«
    Die Gestalt am Strand hatte sich hochgewuchtet, und als das Wasser sich wieder zurückzog, begann der Mann zur Verwunderung seiner Beobachter einen schwerfälligen Tanz aufzuführen, folgte den sich zurückziehenden Wellen und trippelte wie wild zurück, wenn sie wieder nach vorne strömten. Und die ganze Zeit über gestikulierte er, wobei er manchmal seine linke Hand in die rechte Armbeuge legte und die rechte Faust in die Luft stieß, dann beide Daumen in den Mund steckte, sie mit Kraft nach außen zog, die Zeigefinger Richtung Meer streckte und dabei schrie.
    »Das kenne ich«, sagte die Wache. »Das haben die Bastarde am Fuß der Mauer auch immer gemacht.«
    »Still! Ich versuche zu verstehen, was er sagt«, unterbrach ihn der Hauptmann.
    Wie zur Antwort legte sich in diesem Augenblick der Wind, und das Meer zog sich weiter zurück als bisher, immer noch verfolgt von dem tänzelnden Mann, dessen Schreie nun deutlich vernehmbar am Kliff hinaufstiegen.
    »Leck mich, alter Mann!« schrie er. »Du willst die Erde erschüttern? Das einzige, was du erschütterst, ist dein Schwanz über dem Pißpott! Und was nun, du wäßriger alter Sack? Leck mich!«
    »Du hast recht. Es ist ein Grieche«, sagte der Hauptmann. »Ein toter Grieche, um genau zu sein«, antwortete der alte Soldat mit einer gewissen Befriedigung.
    Denn in seiner wachsenden Kühnheit hatte der tänzelnde Mann sich in diesem Augenblick relativer Ruhe weit von seiner schützenden Mauer weglocken lassen, und als der Ozean plötzlich vor ihm explodierte, hatte er keine Chance, sich wieder in Sicherheit zu bringen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher