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Das Haus an der Klippe

Das Haus an der Klippe

Titel: Das Haus an der Klippe
Autoren: Reginald Hill
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wartete darauf, daß er abstürzte. Von Zeit zu Zeit griff der Mann in seinen Sack, dann streckte er wieder auf der Suche nach einer Stelle, die ihm Halt geben konnte, den Arm aus. Wie auf dem Strand kam er auch hier nur qualvoll langsam vorwärts, gelegentlich fand er keinen Halt und rutschte ein Stück zurück, doch kam er stetig voran.
    »Wie in Gottes Namen macht er das?« fragte die Wache. »Das ist einfach nicht möglich!«
    »Weichtiere«, sagte der Hauptmann.
    »Das wäre nicht nötig gewesen«, sagte der Wachmann, der scheinbar »Weichbirne« verstanden hatte. »Ich habe ja nur gefragt.«
    »Weichtiere, habe ich gesagt. Muscheln, Austern, was er finden konnte. Er drückt sie gegen die Wand, bis sie sich festsaugen. Dann benutzt er sie als Leiter.«
    »Muscheln, sagst du? Diese Dinger sollen das Gewicht eines Mannes tragen, im Ernst?«
    »Drei vielleicht schon. Er versetzt immer nur einen Fuß oder eine Hand auf einmal. Und er nutzt jeden Halt aus, den der Fels bietet. Wirklich ein schlauer Bursche.«
    Die Wache schüttelte mit widerstrebender Bewunderung den Kopf. Als hätten sie begriffen, daß ihnen ihre Beute zu entkommen drohte, stürmten die Wellen mit vermehrter Wucht gegen die Klippen an, schlugen über dem Kletterer zusammen und besprühten die Beobachter über ihm mit Gischt.
    Ein rauher, krächzender Laut drang gleichfalls zu ihnen herauf.
    »Das Schwein lacht!« sagte die Wache.
    »Natürlich lacht er. Er freut sich, wenn die Felswand richtig schön naß ist. So gefällt es den Muscheln. Je nasser die Wand, desto besser können sie sich festsaugen.«
    Wieder schloß der Wind das Loch in der Wolkendecke. Da der Kletterer sich außerdem noch dem Überhang näherte, konnten ihn seine Beobachter nicht mehr sehen. Der Posten rückte von der Kante ab, blieb in der Hocke und zog sein Schwert.
    »Wollen mal sehen, ob er immer noch lacht, wenn er den Kopf über den Rand streckt und ich ihm die Kehle durchschneide«, sagte er und prüfte dabei die Schneide der Klinge mit dem Daumen.
    Der Hauptmann der Wache sagte nichts, kauerte sich aber neben ihn. Sie mußten sich gegen den Wind stemmen, um nicht umgeblasen zu werden; von Zeit zu Zeit, wenn die Wut des Ozeans, der den Kletterer herunterwaschen wollte, übermächtig wurde, sprühte ihnen Salzwasser ins Gesicht.
    Minuten verstrichen. Die Beobachter rührten sich nicht. Sie hatten über viele Jahre lernen können, daß die Geduld zu den großen militärischen Künsten zählt.
    Schließlich zeichnete sich auf dem Gesicht des Wachpostens die Überzeugung ab, daß das Meer schließlich doch seinen Kampf gegen den kletternden Griechen gewonnen haben mußte. Er warf dem Kommandanten einen Blick zu. Aber dessen Gesicht war genauso zerfurcht und mit Narben übersät wie eine Stadtmauer nach einer langen Belagerung, und schon unter günstigen Umständen ziemlich undurchschaubar. Daher zog es der Posten vor, zu schweigen und weiter Ausschau zu halten.
    Schon wenige Augenblicke später beglückwünschte er sich zu dieser Zurückhaltung. Ein neues Geräusch drang durch das Brausen des Wassers und das Heulen des Windes zu ihnen herauf: schweres Atmen, das näherkam.
    Der Posten lächelte in freudiger Erwartung. Er würde ihm nicht einfach nur die Kehle durchschneiden, sondern versuchen, ihm gleich den Kopf abzuschlagen. Was für ein Spaß, wenn er ins Lager zurückkehrte, ihn zwischen seine halbwachen Kameraden warf und beiläufig sagte: »Habe mir noch einen Griechen geschnappt, während ihr faulen Säcke geschlafen habt.«
    Das Atmen war nun schon sehr deutlich zu hören. Der Wachposten änderte seine Position, so daß er nun genau über dem Kletterer war Ein Arm, der aussah wie ein schmaler Baumstamm, schwang sich über die Kante der Klippe, ein Schopf salzverkrusteten Haares tauchte auf, schließlich war der Kopf ganz zu sehen, und zwei tiefblaue Augen blickten die wartenden Männer an.
    »Wie geht’s, Kamerad?« sagte der Grieche.
    Der Posten schaukelte sich auf den Zehenspitzen vorwärts und griff mit der linken Hand blitzschnell nach dem grauen Schopf. Doch so schnell er auch war, der Grieche war schneller. Seine andere Hand, die eine zackige Muschel umklammerte, kam in Sicht. Sie schoß so rasch vor, daß die Bewegung kaum wahrzunehmen war, und im nächsten Moment war das linke Handgelenk des Postens bis auf die Knochen aufgeschlitzt.
    Er stieß einen Schrei aus und wich zurück. Seine rechte Hand ließ das Schwert fahren und griff nach der klaffenden Wunde, um
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