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Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)

Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
Autoren: Monica McInerney
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Monaten hatte ich alles Mögliche versucht – sogar ätherische Öle eingeatmet und meditiert. Nun bemühte ich mich, mich auf meine Umgebung zu konzentrieren. Den Ratschlag hatte ich erst kürzlich in einem Buch gelesen, einem Buch über den Umgang mit schwierigen Erinnerungen. Konzentrieren. Aufmerksam werden. Ablenken. Beobachten. Ich listete innerlich auf, was ich sah. Ich zwang mich, meine Umgebung wahrzunehmen, mir genau bewusst zu machen, wo ich war und was ich tat.
    Ich war im Heathrow Express. Ich hatte gerade zweiundzwanzig Stunden im Flugzeug gesessen, auf dem Weg von Australien nach London. Auf dem Schoß lag meine Handtasche. Die Sitze waren mit blauem Stoff bezogen. Die meisten waren besetzt. Einige Passagiere hatten die Augen geschlossen, andere gähnten, alle erholten sich von einem langen Flug. Ich schaute zum Gepäckregal, um zu kontrollieren, ob mein roter Koffer dort noch lag. Tat er. Ich blickte nach oben, auf den kleinen Monitor am Ende des Abteils. Den aktuellen Schlagzeilen folgte die Wettervorhersage. Auf London wartete ein kalter, windiger Februartag. Der Kontrolleur erschien. Sehr schön, Ablenkung. Ich reichte ihm mein Ticket und beobachtete, wie er es rasch abstempelte und zum nächsten Passagier ging. Ich sah wieder auf den Monitor. »Unser nächster Halt ist London-Paddington«, verkündete fröhlich ein Sprecher mit britischem Akzent. »Wir danken Ihnen für die Fahrt mit dem Heathrow Express.«
    Ich hatte mit Lucas vereinbart, dass ich gegen zwei Uhr da sei, direkt von Heathrow zu ihm kommen würde. Das war nicht unser erstes Wiedersehen seit meiner gescheiterten Fuchs-Rettung, oh nein. Und auch das Päckchen mit Foxy war nur der Auftakt zu Hunderten – wortwörtlich Hunderten – von Briefen, Faxen und E-Mails gewesen. Lucas war, ohne es zu wissen, zur verlässlichsten erwachsenen Bezugsperson in meinem Leben geworden.
    Drei Monate nach jenem ersten Besuch teilten mir meine Mutter und mein Vater mit, dass sie sich scheiden lassen würden. Unüberbrückbare Differenzen. Ich musste erst einmal lernen, das Wort »unüberbrückbar« auszusprechen und zu schreiben. Es war eine hässliche Scheidung. Meine Eltern hatten sich während ihrer Ehe gestritten, und sie stritten sich während ihrer Scheidung: darüber, wie das Vermögen aufzuteilen war, wer das Haus, wer mich bekam. Nach einem mehr als einjährigen Rechtsstreit wurde Mum fast alles zugesprochen, unser Häuschen in East Melbourne und auch ich. Kurz darauf kam Dad zu mir und erzählte, dass man ihm einen Job in Kanada angeboten und er ihn angenommen hatte. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah.
    Acht Monate nach Inkrafttreten der Scheidung heiratete meine Mutter erneut, Walter, einen deutschstämmigen Geschäftsmann, dem sie in einem Gartenzentrum begegnet war. Sie hatten im gleichen Moment nach einem großen Terrakottatopf gegriffen. Der Presse erzählte Mum dann später gern, Amor hätte die Finger im Spiel gehabt – Walter hieß mit Nachnamen Baum, und sie waren sich in einem Gartenzentrum begegnet! Besagter Terrakottatopf jedenfalls führte zu einem Kaffee und einer Reihe heimlicher Treffen – angeblich ging meine Mutter zu Abendkursen. »Ich wollte, solange ich mir nicht sicher war, keine falschen Hoffnungen bei dir wecken«, erklärte sie mir. Dabei hätte sie gar keine Hoffnungen geweckt. Ich litt noch immer unter der Trennung von meinem Dad. Nach einem neuen Vater sehnte ich mich wirklich nicht.
    Es wurde eine kleine Hochzeit. Auch für meinen Stiefvater war es die zweite, da wollten sie beide keinen großen Wirbel, hieß es. Zu Walter gehörten ein enormes Bankkonto, eine Börsenmaklerfirma, reichlich graues Haar, ein Bart, ein großes Haus im schicken Richmond und ein Sohn, Charlie – mit vollem Namen Charlemagne, ungelogen –, von jetzt auf gleich mein Stiefbruder. Er war zwei Jahre älter als ich, er elf, ich neun. Charlies Mutter war im Anschluss an die Scheidung nach Deutschland zurückgekehrt. Sie sei, so Mum, nicht ganz klar. Sie konnte sich nicht um Charlie kümmern. Dabei hatte sich Mum an den Kopf getippt und so komisch mit den Augen gerollt. Ich brauchte eine Weile, bis ich begriff, dass sie sagen wollte, Walters Exfrau sei nicht klar im Kopf. Erst Jahre später erfuhr ich Genaueres. Anfangs sprachen weder Charlie noch Walter häufig über sie.
    Aber so fanden zwei und zwei zusammen, und wir wurden vier. Keine zwei Jahre später, drei Wochen nach meinem elften Geburtstag, wurden, als ein kleines
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