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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund
Autoren: Susanne Gerdom
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unsichtbaren Drähten gezogen weiterging. Sie durchquerte das Dorf und ging auf das Herrenhaus zu. Ich muss einen Arzt rufen, dachte sie. Großmutter. Sie sah aus, als stürbe sie ... aber der Gedanke zerfaserte wie schwarzer Nebel. November ging wie im Traum. Es war kalt, so kalt wie in einer klaren Winternacht. Der blaue Frühlingshimmel des frühen Nachmittags hatte sich zu einem tiefen Mitternachtsschwarz verdunkelt. Nirgendwo in den Fenstern der Häuser brannte Licht, das Dorf lag finster und tot da. Ein eisiger Mond stand hoch am Himmel und beleuchtete ihren Weg. Sie ging, und ihre Gedanken standen still, während ihre Beine sich bewegten.
    Heathcote Manor tauchte so plötzlich vor ihr auf, als wäre es aus dem Boden gewachsen, als sie einen Augenblick nicht hingesehen hatte. Sie konnte von hier aus auch das Kutscherhaus sehen, das ebenso dunkel und tot zwischen den Bäumen s tand wie die anderen Cottages des Dorfes. Nichts lebte in dieser schwarz-weißen, kalten Welt außer ihr und dem, was im Haus auf sie wartete.
    Komm , hörte sie den Ruf, lockend und süß, bedrohlich und voller Dunkelheit. Komm zu mir, meine Braut!
    Es ist nicht Winter, es ist Frühling, dachte sie. Ich bin noch nicht so weit. Ich bin noch nicht sechzehn geworden ...
    Aber auch diese Gedanken zerstoben in nichts. Sie ging den Weg hinauf, erklomm die Treppe zum Eingang und öffnete die Tür.
    Ein tiefes, stöhnendes Seufzen. Der Türknauf flog aus ihren Fingern, die Tür donnerte hinter ihr ins Schloss. Dunkelheit. Raschelnde Erwartung.
    Da bist du. Willkommen, Novemberbraut.
    Etwas streift weich ihre Wangen, berührt sanft ihre Stirn, gleitet über ihre Arme, raschelt an ihrem Körper entlang, fällt schwer auf ihre Füße. Weißer Stoff schimmert in der Dunkelheit.
    Komm zu mir, Winterkind.
    Sie macht einen Schritt. Ein Luftzug, eine Berührung. Ihre Arme umfassen dorniges, süß duftendes Gesträuch. Rosen. Sie zerstechen ihre Finger, ihre Arme, und ihr Duft ist so schwer, dass er ihre Sinne umnebelt.
    Hier bin ich, meine süße Braut. Folge meinem Ruf.
    Sie schreitet nachtwandlerisch durch die Halle, findet den Weg, als wäre sie ihn schon tausend Mal gegangen. Die Treppe, die hinunterführt. Tief hinunter.
    Die Dornen reißen ihre Haut auf. Blut sickert wie dunkle Tränen aus den Wunden, tropft zu Boden, eine Spur von roten Blütenblättern im Staub.
    S tufe um Stufe. Die Dunkelheit ist absolut, aber die weißen Rosen beleuchten wie Mondlicht ihren Weg. Sie folgt dem Zerren und Ziehen des Rufs. Das Haus ist um sie, sie fühlt seine Mauern, sein Fundament, seine Balken, die Jahrhunderte, die auf seinem Dach lasten. Dies ist ein uralter Ort, älter als das Dorf, älter als das Land, so alt wie die Welt. Bevor es Menschen gab, starben hier Wesen aus den Tiefen der Erde, deren Namen niemand mehr kennt, deren Aussehen von der Zeit verschlungen wurde. Ihr Blut war das erste, aus ihm wuchs eine dunkle Gottheit. Diesem uralten, ersten Blutopfer folgte ein niemals abreißender, breiter, nachtdunkler Strom an immer neuem, immer frischem Blut.
    Ihr Fuß stößt hart auf den Boden, die Treppe ist zu Ende. Sie steht und zittert. Der Ruf lockt. Komm zu mir, meine Braut. Ich warte voller Sehnsucht. Ungeduld. Hunger ...
    Sie will schreien, will sich umdrehen und fliehen, die Treppe hinauf, zur Tür hinaus, aber ihre Beine gehorchen dem Ruf. Dem Herrn. Ihrem Bräutigam. Sie tragen die Novemberbraut tiefer hinein in das dunkle Gewölbe. Knochensaal. Blutthron. Wartend.

Novembers Tagebuch
    T agebuch, ich nehme dich an mich. Du hast die letzten Worte meiner Schwester aufgenommen und verschluckt, und sie sind nun das Einzige, was mir von ihr geblieben ist.
    Ich hasse euch alle, ihr habt es zugelassen, dass sie starb. Ich hasse meine Mutter, die so feige war, einfach zu gehen, ohne für meine Schwester gekämpft zu haben. Ich hasse meinen Vater, der es hätte verhindern können und es nicht getan hat. Ich werde nie wieder ein Wort mit ihm reden, solange ich lebe!
    Ich hasse dich, Adrian. Du bist nicht gekommen. Du bist der größte Feigling von allen! Ich spucke auf dein Grab. Verrotte, Adrian, du Verräter. Verrotte!

36
    ADRIAN
    »Adrian, du solltest jetzt wach werden.« Eine Hand rüttelt unsanft an meiner Schulter. Jemand gibt mir kleine, feste Klapse ins Gesicht.
    Ich knurre und wehre die Hand ab, öffne widerwillig die Augen. Jeannie. Sie starrt auf mich hinab. Sie trägt eine ... eine Rüstung ?
    Ich sitze, ehe ich bemerkt habe, dass ich lag.
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