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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden
Autoren: Boris Akunin
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zu wenig erschlossen, um darüber bestimmte Aussagen zu treffen. Außerdem denke ich an die Mahnung des Sensei: Abschweifungen am Ende einer Geschichte sind strikt zu unterlassen.
    Als meine Seele sich wieder mit meinem Verstand vereinigt hatte, entdeckte ich, dass ich auf den Steinplatten in der Nähe des Turms lag; meine Haar waren voller Erde, an meinem Ohr hing ein Blumenstängel, um mich herum waren Tonscherben verstreut. Mein Kopf war nass von Blut und hatte eine recht imposante Beule.
    Obwohl meine Gedanken noch nicht wieder ganz in Ordnung waren und mein Kopf heftig schmerzte, reimte ich mir zusammen, was geschehen war.
    Desu-San hatte versehentlich den Blumentopf heruntergestoßen, er war auf mich gefallen, und ich hatte für eine Weile das Bewusstsein verloren. Die Menge Schnee auf meiner Kleidung sagte mir, dass ich mindestens zehn Minuten dort gelegen haben musste.
    Als Erstes schaute ich nach dem Gefangenen.
    Oje, er war weg! Im Schnee lagen nur Fetzen des Netzes, außerdem waren da zwei Reihen von Fußspuren, die eines Mannes und die einer Frau – sie führten um das Haus herum.
    Von Entsetzen gepackt, rannte ich dorthin.
    O Jammer! Auch der zweite Bandit war verschwunden. Nach den Spuren zu urteilen, war er über den Schnee in Richtung Schlucht geschleift worden.
    Ich rannte hinterher, so schnell ich konnte.
    Ich rutschte den steilen Abhang hinunter, schlug mich durch kahles Gebüsch, sprang über einen gleichgültig murmelnden Bach und kletterte auf der anderen Seite hinauf.
    Hinter der Schlucht verlief eine sechs oder sieben Shaku hohe Steinmauer.
    Im Nu saß ich darauf.
    Und hätte beinahe geweint.
    Auf dem schneeverwehten Weg entdeckte ich einen Haufen Pferdedung und Wagenspuren. Hier hatte eine Kutsche auf die Banditen gewartet …
    Ich hatte meine Pflicht nicht erfüllen können!
    Ich erinnere mich kaum, wie ich zurückwankte. Tränen verschleierten meinen Blick. Was sollte ich meinem Herrn sagen? Wegen seines dummen Dieners würde er vor Sherlock Holmes das Gesicht verlieren.
    Auf halbem Weg zur Bibliothek stieß ich mit meinem Herrn und dem Engländer zusammen.
    Fandorin-Dono leuchtete mir mit der Taschenlampe ins Gesicht (das elektrische Licht funktionierte noch immer nicht) und fragte: »Du blutest ja, was ist passiert?«
    Ich erklärte es ihm auf Japanisch, mit vor Scham ganz dumpfer Stimme. Mein Herr übersetzte, und trauriges Schweigen trat ein. Es gab keinen Grund mehr, den Turm hinaufzusteigen.
    »Das Schlimmste ist, dass Lupin seinen eigenen Biographen hat«, sagte Watson-Sensei niedergeschlagen. »Ich kann mir vorstellen, in welchem Licht er uns alle darstellen wird. Ganz Europa wird über Sherlock Holmes lachen …«
    Ich pfiff auf Sherlock Holmes, wie man in Russland sagt, aber der Gedanke, dass mein Herr zum Gespött werden könnte, stürzte mich in Verzweiflung. Denn das war meine Schuld!
    »Monsieur Lupin wird sich kaum mit dieser Geschichte brüsten wollen«, sagte Holmes versonnen. »Nein, das glaube ich nicht. Jetzt lacht er natürlich über uns, aber seine Heiterkeit wird nicht lange währen. Meine Herren, möchten Sie nicht einen Blick in das Zimmer werfen, dass unser Gastgeber Watson und mir zur Verfügung gestellt hat?«
    Befremdet folgten wir dem britischen Detektiv. Unterwegs stellte der Sensei ihm einige Fragen, doch Sherlock Holmes schüttelte nur den Kopf.
    Im Zimmer sagte er: »Watson, öffnen Sie Ihren Koffer.«
    »Warum?«
    Der Sensei starrte verwundert auf einen karierten Koffer, derneben einer großen ledernen Truhe und einem Geigenkasten an der Wand stand.
    »Na los, öffnen Sie ihn.«
    Holmes zündete Kerzen an und trat mit dem Leuchter näher. Mein Herr leuchtete ebenfalls – mit der Taschenlampe.
    »Was zum Teufel …«, murmelte Watson-Sensei, an den Schlössern herumfummelnd. »Mein Koffer ging doch anders auf … Ach!«
    Auch mein Herr und ich sagten »Ach!« Kein Wunder!
    Der Koffer enthielt zahlreiche samtene und wildlederne Behälter unterschiedlichster Größe, und als der Sensei sie öffnete, huschten farbige Blitze über die Wände. Es war Schmuck: Halsketten aus Smaragden und Rubinen, Brillantringe, alte Goldketten.
    »Was ist das?«, murmelte Watson. »Wo sind meine Sachen?«
    »Das ist der Erbschatz der Familie Des Essarts.« Sherlock Holmes legte dem Sensei die Hand auf die Schulter. »Seien Sie tapfer, Watson. Ihr Koffer ist unwiederbringlich verloren.«
    »Aber wie das? Wie haben Sie das angestellt?«
    »Ganz einfach.« Holmes lachte leise.
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