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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden
Autoren: Boris Akunin
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wenig außer sich. Sein Stolz ist verletzt, und er würde eher sterben, als uns sein Geheimnis verraten. Masa wird hinuntergehen und nach ihm sehen – für alle Fälle. Und wir besuchen jetzt Monsieur Bosquot. Ich hoffe, er zeigt sich nachgiebiger.«
    Nachdem wir das Fenster geschlossen und das Mädchen mit einem Plaid zugedeckt hatten, verließen wir den Turm. Shibata ging Arsène Lupin bewachen, wir drei übrigen liefen rasch hinunter und durch den Dienstboteneingang hinaus – zum Glück hatte Fandorin sämtliche Schlüssel in Verwahrung.
    Vom Himmel fielen Schneeflocken auf das trockene, matte Gras.
    »Richtiges Neujahrswetter«, sagte der Russe und atmete genussvoll ein. »Ich danke dem neunzehnten Jahrhundert für d-diesen schönen Abschied.«
    Doch mir war der Schnee gleichgültig. Ich hielt meine Uhr in der Hand und blickte immer wieder auf den großen Zeiger. Von Mitternacht trennten ihn nur noch sieben kleine Striche. Unversehens wurde mir eine einfache und schreckliche Tatsache bewusst: Wenn Bosquot sich weigerte, uns das Geheimnis zu verraten, würden wir es nicht mehr schaffen, in den Turm zurückzukehren und Miss Eugénie aus dem Haus zu bringen! Wie hatte ich so leichtsinnig handeln können!
    Als ich an der Wand unter dem offenen Fenster einen dunklen, formlosen Haufen entdeckte, rannte ich, so schnell ich konnte, dorthin.
    Es war Bosquot, ebenso wie sein Patron in einem Seidennetz gefangen. Unbeschreiblich aber war mein Entsetzen, als ich gewahr wurde, dass der Verbrecher reglos dalag. Er hatte eine längliche, stark blutende Kopfwunde. Offenbar hatte meine letzte, aufs Geratewohl abgefeuerte Kugel den Fliehenden an der Schläfe getroffen und ihm das halbe Ohr abgerissen. Er hatte noch hinunterklettern können, war ins Netz geraten, und durch die heftigen Befreiungsversuche hatte sich die Blutung verschlimmert, und er hatte das Bewusstsein verloren.
    Ich packte ihn am Kragen und schüttelte ihn – vergebens.
    Ich sah auf die Uhr – fünf vor …
    »Mr. Fandorin«, vernahm ich über mir die ruhige, ein wenig spöttische Stimme von Holmes, »offenbar müssen wir doch die Richtigkeit Ihrer Hypothese überprüfen. Wir haben keine andere Wahl. Mal sehen, ob sie im Deduzieren ebenso gut sind wie im Aufstellen von Fallen. Laufen wir?«

    XIV

    Kurz darauf stürmten wir alle drei ins Orgelzimmer.
    »Schneller!«, rief ich Fandorin zu. »Warum bleiben Sie stehen! Wir haben nur noch zweihundertvierzig, nein zweihundertdreißig Sekunden!«
    Er rieb sich die graue Schläfe und hob die Hände.
    »Das reicht nicht, um eine neue Hypothese aufzustellen, sollte ich mich irren. Auch nicht, um aus dem Haus zu laufen. Außerdem können wir die Dame doch nicht im Stich lassen, oder? Habe ich aber recht, dann b-brauche ich nur ein paar Sekunden. Darum möchte ich, mit Ihrer Erlaubnis, kurz den logischen Weg skizzieren, dem ich gefolgt bin.«
    Ich stöhnte, Holmes dagegen schien diese Effekthascherei zu gefallen.
    »Nun, nun. Sehr interessant.«
    »Was hier s-sofort auffällt«, begann der unerträgliche Mr. Fandorin bedächtig, während er zur Orgel ging, »ist die perfekte Sauberkeit, wie ich bereits erwähnte. Kein Staubkorn, sehen Sie? Das heißt, dieser Raum wurde benutzt. Wozu? Der Schlossherr spielt im Gegensatz zu seinem Vater kein Instrument. Also d-diente das Zimmer jemand anderem … Nun zwei Worte zum Ursprung des Geheimverstecks. Warum hat der selige Besitzer hier eine vollkommene Schallisolierung installieren lassen? Um die Ruhe seiner Gattin nicht zu stören? Wohl kaum. Er hatte auch keine Hemmungen, ohne Sinn und Verstand die Kanone abzufeuern. Also d-dachte ich mir …«
    »Um Himmels willen!«, flehte ich. »Noch zwei Minuten!«
    »Also dachte ich mir«, fuhr Fandorin ungerührt fort, »was, wenn der Schlossherr nicht wollte, dass seine Lieben hörten, welches Stück er hier am häufigsten spielte? Diese V-vermutung führte mich direkt zu meiner Hypothese.« Er klappte das Instrument auf undstrich über die weißen und schwarzen Tasten. »Hier ist sie: Der Code bezieht sich auf die Reihenfolge der Tasten, die man drücken muss, um das Versteck zu öffnen. Vermutlich kann Lupin keine Noten lesen (ebenso wenig wie ich), weshalb er die Tasten nach Lage und Farbe kennzeichnete. Die weißen Tasten mit »b« für »blanc«, die schwarzen mit »n« für »noir«. Probieren wir es einmal aus?«
    Er schlug sein Notizbuch auf, in das er den Code geschrieben hatte. Bis Mitternacht blieb noch eine Minute.
    »Warten
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