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Das Hagebutten-Mädchen

Das Hagebutten-Mädchen

Titel: Das Hagebutten-Mädchen
Autoren: Sandra Lüpkes
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den beiden hat das Schloss zögerlich berührt, ich weiß nicht mehr, wer. Doch dann haben sie sich wortlos angeschaut, einen ganz kurzen Augenblick nur, und sind gegangen. Einfach so. Sie verstanden sich ohne Worte, waren einer Meinung, ich habe in diesem Moment noch mehr an meinen Verdacht geglaubt, dass sie eine Beziehung hatten. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich mich wieder bewegen konnte. Wie gelähmt hockte ich hinter der Tuba und drehte das Paket unentwegt in meinen Händen. Aus dem Schaufenster kam kein einziger Laut. Bis auf mein Herzklopfen war es völlig still im Laden. Schließlich bin ich aufgestanden, wie automatisch. Ich kann nicht genau sagen, ob ich bei Verstand war oder kurz vorm Durchdrehen. Die Angst, die Verzweiflung, der Alkohol, ich war wohl unzurechnungsfähig, doch ich fühlte mich völlig klar im Kopf, als ich einen herumliegenden Lappen nahm und die Rückwand abwischte. Keine Fingerabdrücke, dachte ich nur. Und dabei ging es nicht um mich, schließlich hatte ich an dieser Stelle keine Spuren hinterlassen. Wie soll ich es erklären? Ich wischte die Spuren der Männer fort, so, als könne ich damit die letzten Minuten ungeschehen machen. Ich hatte zu viel gehört. Was sollte aus meinem Sohn werden? Der Vater und der Onkel, zwei skrupellose Betrüger, die mir und Michel alles nehmen wollten, was wichtig war. Es war wie vor fünfzehn Jahren, als mir schon einmal das Fundament meines Lebens zerbrochen ist und ich in einen Abgrund aus Lügen und Demütigung gefallen bin. Nein, diesmal war es noch schlimmer. Es kam immer noch kein Laut aus dem Schaufenster, vielleicht war Kai eingeschlafen, ich weiß es nicht. Hätte er gerufen, dann hätte ich ihn wahrscheinlich wieder befreit, doch es blieb stumm und ich habe ihn vergessen. So muss es gewesen sein, ich habe ihn einfach vergessen, weil ich so mit mir und meinen neuen alten Wunden beschäftigt war. Sonst hätte ich ihn doch da rausgeholt, ganz bestimmt. Ich wusste noch nicht, in welcher Gefahr er schwebte. Ich hatte keine Ahnung. Nicht so wie mein Bruder Henner, der als Taucher ganz genau wissen wird, wie viel Atemluft der Mensch zum Überleben braucht, wie viel Kubikmeter Kai wohl zur Verfügung standen. Genau wie mein Mann Gerrit, Feuerwehrmann, er kennt sich aus mit Atemschutzgeräten und so, er wird von der Gefahr gewusst haben. Als ich von Minnerts Tod erfuhr, habe ich gleich gedacht: Die beiden könnten es gewusst haben. Aber trotzdem war ich es, die ihn nicht gerettet hat. Das werde ich nie verstehen. Ich muss völlig weggetreten gewesen sein. Es macht doch sonst keinen Sinn! Hab ihn einfach dort drinnen liegen lassen, habe die Fingerabdrücke weggewischt, die Ladentür verschlossen und den Schlüssel gemeinsam mit den Sektgläsern und der Flasche in den Altglascontainer beim Bootshaus eingeworfen. Und dort habe ich auch erst bemerkt, dass ich noch immer dieses Paket unter dem Arm trug. Wirklich erst dann. Von dort bin ich nach Hause gegangen. Einfach so. Ich muss total daneben gewesen sein. Mein Leben war in diesem Moment am Ende, dachte ich.«
     
    Tjark Bonnhofen, der noch immer dastand wie ein Weltcupboxer kurz vor dem K.o. ungläubig und trotzig, kannte diese Geschichte natürlich noch nicht in all ihren Details. Er wusste nicht, dass er letztlich nur Handlanger war, dass er, wahrscheinlich noch nicht einmal mit konkreter Mordabsicht, die Rückwand verschlossen hatte, und drei Personen, die um die tödliche Falle Bescheid wussten, seine Tat nicht rückgängig gemacht hatten. Natürlich würden sie alle bestraft werden. Wie und mit welchem Strafmaß, das wusste Wencke in diesem Moment noch nicht, und es war ihr auch, gelinde gesagt, schnurzegal.
    Ironischerweise hatte Bonnhofen mit seiner Lügengeschichte im Polizeirevier sogar noch unwissend dazu beigetragen, dass die ganze Geschichte hinter dem Fall aufgedeckt wurde. Ohne seine erfundene Zeugenaussage, in der er von seinem unheilschwangeren Gespräch mit Kai Minnert und dessen Andeutungen in Richtung Antiquitäten berichtet hatte, wäre Wencke niemals, oder zumindest nicht so schnell, auf die Geschichte mit dem Hagebutten-Mädchen gestoßen. Das war schon irgendwie kurios, fand Wencke, auch wenn Bonnhofen sicherlich nicht darüber lachen konnte. Und Wencke würde ihm sowieso nichts davon erzählen. Dazu war der Anblick der sich ausbreitenden hektischen Briefmarkenflecken auf seinem Gesicht und an seinem Hals einfach zu herrlich.
    Er hatte immer noch das Handy in der Hand. »Ich
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