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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman
Autoren: Thomas Glavinic
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Katzenpisse auf diesem schmutzigen alten Spannteppich lag und ein riesiger, nach Alkohol dünstender Mann über ihm stand und mit den Fäusten auf ihn einschlug, er verstand es damals nicht und Jahrzehnte später nicht. Er wusste nur, dass ihn nicht der physische Schmerz am tiefsten verletzte, sondern die betretene Untätigkeit seiner Mutter, die mit gesenktem Kopf und einem Glas in der Hand daneben stand und so tat, als sei sie nicht da.
    Das war das Bild, das Jonas nie vergessen sollte. Er dachte an seinen Vater, der ein paar Jahre zuvor gestorben war und ihn sicher beschützt hätte, er dachte an den Mount Everest, auf den die mutigsten Menschen der Welt kletterten, er dachte an den Grand Canyon, den er besuchen wollte, seit er im Kindergarten Bilder davon in einem Buch gesehen hatte, und den er sich als eine Heimstatt zauberhafter Urwesen ausmalte, die ihn vor allen Gefahren beschützen würden.
    Bald darauf dachte er gar nichts mehr, und alles versank in Dunkelheit.
     
    Mike, Werner und Picco besuchten ihn jeden Tag im Krankenhaus. Selbst Hohenwarter und Regina erschienen, gefolgt von einem riesigen Mann, den Jonas nicht kannte. Beim Anblick der Hämatome an Jonas’ Körper schüttelte Picco den Kopf, strich ihm durchs Haar und murmelte etwas, während Werner stapelweise Micky-Maus-Hefte auspackte und auf den Nachttisch legte.
    Mike kletterte zu Jonas ins Bett und schmiegte sich an ihn. Beim Abschied musste er jedes Mal von Jonas fortgezogen werden.
    »Er wohnt derzeit bei uns«, erklärte Werner. »Picco wollte das so.«
    Am zweiten Tag bekam Jonas ein Einzelzimmer. Als er am Tag darauf für eine Untersuchung nach draußen gerollt wurde, bemerkte er erstaunt, dass der unbekannte Mann aus Piccos Begleitung vor der Tür saß und in einer Zeitschrift las.
    »Na, Junge?« sagte der Riese. »Üble Sache, aber es gibt immer noch Schlimmeres.«
    »Stimmt wohl.«
    »Kennst du die Geschichte von dem Vortragsreisenden in Bangkok?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Nun, das war schon ein älterer Herr, und Bangkok ist heiß und feucht. Nach einem Vortrag ging er auf sein Zimmer und nahm erst mal eine kalte Dusche.«
    »Klingt vernünftig.«
    »Danach legte er sich aufs Bett, und um sich weiter zu erfrischen, schaltete er einen Ventilator ein. Leider hatte er noch nasse Hände. Errätst du, wie die Geschichte weitergeht?«
    »Ich fürchte ja«, sagte Jonas.
    »Eine halbe Stunde später kam ein Zimmermädchen rein, und selbst da roch es noch verbrannt.«
    »Er war tot?«
    »Mausetot.«
    »Das ist wirklich schlimmer als das, was mir passiert ist.«
    »Siehst du«, sagte der Mann und nahm seine Zeitschrift wieder auf. »Man muss die Dinge immer von der positiven Seite betrachten.«
     
    Nach einer Woche, in der ihn seine Mutter kein einziges Mal besucht hatte, wurde Jonas entlassen, und von da an änderte sich einiges.
    Mike und Jonas wohnten von nun an bei Picco. Jonas bekam das Zimmer neben Werner, das dreimal so groß war wie sein altes, es war sauber, er hatte immer frische Wäsche und sogar neue Hosen, die ihm nicht zu kurz waren, er musste sich nicht allein um sich kümmern, sondern wurde geweckt und bekam Frühstück, Mittagessen, Abendessen.
    »Merkt dein Großvater eigentlich, dass Mike nicht so ist wie wir?« fragte Jonas. »Weiß er, dass es anstrengend werden kann mit ihm?«
    »Der findet den normaler als uns, glaube ich«, sagte Werner.
    »Und wie lange sollen wir bleiben?«
    »Warten wir mal ab. Mir wäre es am liebsten, ihr bleibt für immer.«
    »Aber das geht doch nicht.«
    »Hier geht alles.«
     
    Die Mutter sahen Jonas und Mike zunächst einmal die Woche. Immer im Beisein des Riesen aus dem Krankenhaus, der Zach hieß und jedes Ziel in einer Entfernung von bis zu dreißig Metern mit einem Stein treffen konnte.
    Die Gespräche mit ihr verliefen einsilbig, sie war so gut wie nie nüchtern. Auf Jonas wirkte sie wie jemand, der von einer bösen Hexe verzaubert und in einen Dämmerschlaf versetzt worden war. Sie schälte Erdnüsse, indem sie mit dem Aschenbecher darauf schlug, bohrte verloren in Mottenlöchern an ihrer Jacke und kratzte sich fluchend mit einer Stricknadel in ihrem Gipsarm, weil sich eine Fliege hinein verkrochen hatte. Den Gips trug sie, weil sie in einer Kneipe die Treppe hinuntergefallen war. Jonas hielt ihren Anblick kaum aus und atmete jedes Mal auf, wenn sie wieder zur Tür hinaus war.
    Nach und nach besuchten Jonas und Mike ihre Mutter seltener.
     
    Das Affe sah niemand wieder.
     
    Seit
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